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Das Schiff aus Stein

Das Schiff aus Stein

Titel: Das Schiff aus Stein
Autoren: Boris Pfeiffer
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hinter ihm. »Rufus, die Flut!«
    Aber das Wasser war bereits verschwunden und die Lehrlinge standen wieder am Grund des trockenen Kanals.
    Rufus erblickte Meisterin Iggle. Sie stand auf der kleinen Terrasse eines alten und schiefen Hauses und winkte. Ihr scharf geschnittenes Gesicht war finster zusammengezogen und ihre dunklen Augen funkelten.
    »Ich werde den Flutkundeunterricht für Sie übernehmen, Direktor Saurini«, rief sie. »Wie ich sehe, befassen sie sich gerade mit dem Kapitel historische Fluten im Wasser.«
    Die Magistra Bibliothecaria hatte Augen wie ein Adler und las selbst aus dieser Höhe noch problemlos die handgeschriebenen Buchstaben im Buch der Gebrüder Micheluzzi.
    »Gut, dann mache ich mich jetzt auf den Weg in mein Büro!« Direktor Saurini schüttelte nachdenklich den Kopf und wandte sich Rufus zu. »Komm bitte mit, du hast es ja gehört.«
    Meisterin Iggle stieg über die Balustrade der kleinen Terrasse und von dort auf die nächste Leiter an der Hauswand. Sie war es aus der Bibliothek gewohnt, sich auf meterhohen, wackeligen Holzleitern zu bewegen.
    Kurz darauf stand sie bei den Lehrlingen auf dem Floß. Ihre schwarzen Haare mit den silbernen Strähnen lagen in einer stürmischen Welle um ihren Kopf und sie sah Rufus neugierig an, sagte aber nichts.
    Direktor Saurini gab ihr das Buch. »Danke, Magistra Bibliothecaria, ich weiß Ihre Hilfe zu schätzen.«
    Meisterin Iggle nickte stumm.
    Hilflos sah Rufus zu No und Filine, die ihn anstarrten. »Um was geht es denn, Meisterin Iggle?«, fragte er zögernd.
    Die Magistra Bibliothecaria lächelte rasch. »Nichts Schlimmes, mach dir keine Sorgen. Es hat mit dem Flutmarkt zu tun. Dein Artefakt ist wahrscheinlich verkauft worden oder etwas in der Art. Aber es ist dringend und kann nur jetzt besprochen werden.« Sie begann im Buch der Gebrüder Micheluzzi zu blättern. »Und nun, meine lieben Lehrlinge, möchte ich euch Wasser schlucken sehen! Oder noch besser, gemeinsam mit euch herausfinden, wie ihr ebendies geschickt vermeidet. Oliver, wenn du bitte zu mir kommst. Ihr anderen stellt euch in einer Reihe auf und legt euch die Hände auf die Schultern. Die Flut geht weiter in Kapitel vierhundertdreiundfünfzig. Es ist überschrieben: ›Wo einstmals Land war, ist nun keines mehr.‹ Ich bin gespannt, wie ihr euch in dieser Situation verhalten werdet.«
     
    Rufus wandte sich ab und folgte Direktor Saurini, der sich bereits in Bewegung gesetzt hatte. Sie gingen unter der Rochusturmbrücke hindurch auf den dunklen Tunnelausgang zu, aus dem sich vor wenigen Augenblicken noch das Wasser der Flut auf die Lehrlinge zugewälzt hatte. Von hier war Direktor Saurini vorhin auch gekommen. Niemand kannte die Gebäude und Gänge der Akademie besser als er, abgesehen vielleicht von der Bisamratte Minster, mit der Rufus seit der Wahl seines ersten Fragments eine besondere Beziehung verband. Außerdem hatte der Direktor die Angewohnheit, unvermutet aus unscheinbaren und verborgenen Türen in den Raum zu treten.
    Und tatsächlich galt dies auch jetzt. Nachdem Rufus ihm einige Meter in den dunklen Tunnel gefolgt war, wandte sich Gino Saurini unvermittelt nach rechts und schob sich durch einen kaum sichtbaren Spalt zwischen zwei schweren Pfeilern. Erstaunt bemerkte Rufus, dass dahinter eine steile, schmale Treppe nach oben führte.
    Direktor Saurini wies auf die Stufen. »Hier müssen wir hoch, das ist der kürzeste Weg in mein Büro.«
    Rufus nickte. Dann drehte er sich noch einmal um. Er beobachtete, wie Oliver die Hand auf die Buchseiten legte, während alle anderen Lehrlinge ihren Vordermann berührten. Dann sah es plötzlich aus, als verschwämmen ihre Gestalten, als ob heiße Luft um sie herum flimmerte.
    »So sieht das also aus, wenn jemand in einer Flut ist und man selber nicht«, sagte Rufus.
    »Ja«, antwortete Direktor Saurini. »Aber Rufus, lass den Unterricht jetzt los. Ich fürchte, uns erwartet etwas sehr Unerfreuliches.«
    »Etwas Unerfreuliches?«
    »Ja, sonst hätte mich Meisterin Iggle niemals aus dem Flutkundeunterricht geholt. Sie weiß, dass er zu meinen Lieblingsbeschäftigungen gehört. Ja, ich fürchte wirklich, es ist etwas äußerst Unerfreuliches.«
    »Aber was denn?«, fragte Rufus besorgt.
    »In meinem Büro«, sagte Saurini und eilte über die Stufen voraus.

Die Wasser des Paktolos
    Trotz seiner fülligen Körperstatur bewegte sich der Direktor flink wie ein Wiesel. Doch schon auf dem ersten Treppenabsatz blieb er unvermittelt
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