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Das Schiff aus Stein

Das Schiff aus Stein

Titel: Das Schiff aus Stein
Autoren: Boris Pfeiffer
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stehen.
    »Rufus, was immer wir auch gleich zu hören bekommen, ich muss dich um absolutes Stillschweigen bitten! Über alles, was du erfährst! Kann ich mich darauf verlassen?«
    Rufus zuckte zusammen. »Natürlich, Direktor Saurini. Aber wieso denn?«
    Saurini zögerte. Dann sagte er: »Mein Gefühl sagt mir, dass es besser ist, wenn außer dem Besuch und uns niemand erfährt, worüber wir gleich sprechen werden. Also, habe ich dein Wort?«
    »Ja«, sagte Rufus leise.
    »Gut!« Der Direktor wandte sich um und stieg weiter die Stufen hinauf. Ab und zu führten Türen oder Gänge von der Treppe irgendwohin, doch Saurini ließ sie alle unbeachtet. Etwa vier Stockwerke höher bog er schließlich in einen niedrigen Gang ab, der an einer Reihe hoher Fensterscharten an einem verlassenen Hof vorbeiführte. Rufus sah, dass in der Mitte des Hofs ein alter Brunnen stand, in dessen Mauer ein seltsames Wesen gehauen war. Es glich einem kleinen alten Mann mit einem dicken Bauch, hatte aber spitze Pferdeohren und einen Bocksschwanz. Beine und Füße dagegen sahen wieder aus wie bei einem Menschen. Auf der Glatze prunkte außerdem ein Kranz aus Weinlaub und die Gestalt saß mit vornübergesunkenem Kopf auf einem Esel, als schliefe sie.
    Der Direktor bemerkte Rufus’ Blick. »Das ist der Hof des Silen«, erklärte er. »Das ist eine sehr alte mythische Gestalt. Er ist ein Faun und war der Lehrer des Gottes Dionysos, Gott des Rausches, des Irrationalen und des Mysteriums. Angeblich ist der Silen sehr gutmütig. Und so wurde er einmal von den Menschen gefangen genommen, als er betrunken im Garten des König Midas eingeschlafen war, und vor diesen geführt. Midas ließ ihn daraufhin foltern. Kennst du die Geschichte des Midas?«
    Rufus schüttelte den Kopf und betrachtete das Relief. Die Worte des Direktors riefen ein Unbehagen in ihm hervor. »Warum hat er ihn denn foltern lassen?«, fragte er zaghaft.
    Direktor Saurini lächelte traurig. »Der Silen konnte die Zukunft vorhersagen. Und an diesem Wissen wollte Midas teilhaben. Er fragte den Silen, was das Beste für den Menschen sei. Der Silen antwortete dem König, das Beste für den Menschen sei, nicht geboren zu werden. Oder wenn schon, dann immerhin bald wieder von der Erde zu verschwinden.«
    »Sie meinen zu sterben?!«, fragte Rufus. »Aber wieso denn? Warum sollen die Menschen denn nicht leben? Das Leben ist doch schön.«
    »Darauf gibt es viele Antworten«, antwortete Saurini bedächtig. »Viele Menschen haben sich mit den Worten des Silen beschäftigt. Eine mögliche Antwort ist, dass bereits die Träne eines unschuldigen Kindes die ganze Schöpfung sinnlos mache.«
    Rufus holte Luft. Die Worte Direktor Saurinis weckten dunkle Erinnerungen in ihm. Er hatte viele Tränen in seinem Leben geweint, ehe er in die Akademie gekommen war. Aber jeder Mensch musste doch mit dem fertig werden, was er erlebt hatte.
    »Es kann doch keine Welt ohne Ungerechtigkeit geben«, sagte Rufus überzeugt. »Das gibt es einfach nicht! Aber deswegen ist doch nicht das ganze Leben sinnlos.«
    »So?« Saurini hielt inne und ließ seinen Blick auf dem Lehrling ruhen. »Du meinst also, ein Dasein ohne Leid sei nicht möglich?«
    »Ja, das glaube ich«, gab Rufus zurück.
    »Das ist eine erstaunliche Antwort für so einen jungen Menschen wie dich.« Gino Saurini betrachtete Rufus. »Wieso denkst du das?«
    »Weil …« Rufus zögerte.
    Plötzlich schossen ihm tausend Dinge durch den Kopf, an die er lange nicht mehr gedacht hatte.
    Weil meine Eltern sich getrennt haben, dachte er. Weil ich es nicht verhindern konnte. Weil ich meinen Vater überhaupt nicht mehr sehe, seit er einfach abgehauen ist. Weil meine Mutter mich anscheinend nicht mehr liebt und außerdem total geldgierig geworden ist. Und weil sie deswegen sogar vielleicht dunkle Geschäfte mit Coralia macht …
    Rufus sah Direktor Saurini an und schüttelte den Kopf. Dann hörte er sich sagen: »Weil die Welt eben nicht gerecht ist. In den Fluten sieht man das ja auch! Unterdrückung und Krieg gab es immer und überall!«
    Saurini fasste Rufus sanft an der Schulter. »Aber auch Vertrauen, Liebe und Zuneigung.« Er betrachtete den Silen. »Die Geschichte des König Midas zeigt uns allerdings, dass die menschliche Dummheit einmalig und unübertroffen ist, wenn sie von Gier und Eitelkeit gelenkt wird!«
    Gino Saurini ließ sich auf eine der steinernen Fensterbänke sinken.
    »Nachdem der König nämlich den Silen befragt hatte, brachte er ihn
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