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Der Untergang der Hölle (German Edition)

Der Untergang der Hölle (German Edition)

Titel: Der Untergang der Hölle (German Edition)
Autoren: Jeffrey Thomas
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1. Die Wiedergeborene
    S ie glaubte, dass sie den Tropfen gesehen hatte, der ihr Gefängnis zerschmetterte – den entscheidenden. Als sich die Wasserperle am Riss in der Decke bildete und in praller Bereitschaft dort hing, sich fast neckisch in die Länge zog und schließlich herabfiel – da erfüllte sie die Gewissheit, dass dieser Tropfen anders war als jene, die vor ihm heruntergefallen waren: bedeutender und stärker. Es war dieser Tropfen, der den Ausschlag gab, so kraftvoll und ruinös wie die auf eine Stadt abgeworfene Atombombe oder die mikroskopische Spaltung des allerersten Zellkerns. Sie erahnte, dass er das zerstörerische Geschoss sein würde, der Schlüssel zu ihrem Kerker. Oder erfüllte ihre eigene Kraft, als sie unbewusst Druck gegen den steinernen Kerker ausübte, den magischen Tropfen, sodass dieser nur ein weiterer in einer endlosen Reihe gewesen wäre, hätte sie ihn nicht durch ihren Willen beeinflusst?
    Sie nahm es schon lange nicht mehr wahr, wenn sie sich gegen den Stein stemmte, der ihren Körper umschloss, als wäre sie ein Fossil. Doch es gab auch lange Zeitspannen, in denen sie vollkommen still dalag – als ob sie schliefe, im Koma läge oder tot wäre. Perioden, in denen sie einfach nur in dieser unnatürlichen Gebärmutter vor sich hin vegetierte, ohne sich gegen sie aufzubäumen – vielleicht Jahre, Jahrzehnte, Jahrhunderte.
    Sie hatte einmal versucht, die Tropfen zu zählen, um das Zeitgefühl nicht zu verlieren. Sie fielen im Abstand von etwa einer halben Minute. Bewusst und kontinuierlich hatte sie laut ihrer inneren Uhr etwa zwei Monate lang gezählt. (Das waren etwa 172.800 Wassertropfen, die jedoch so weit von ihren ausgetrockneten Lippen entfernt blieben, dass sie sie, abgesehen von dieser Zerstreuungsübung, zu verspotten schienen.) Dann hatte sie gelernt, stattdessen unbewusst zu zählen, um die restliche Kapazität ihres Geistes für Grübeleien, Träumereien oder einfach zum Abschalten zu reservieren. Das war ihr, wie sie glaubte, für eine Spanne von etwa drei Jahren gelungen. Ungefähr 3.075.840 Tropfen – reichte das aus, um einen Regenwald zu versorgen, einen See zu füllen, eine Welt zu ertränken? Schließlich verlor sie durch eine Art mentalen Schluckauf den Rhythmus, kam ins Zögern und Zweifeln und verlernte den Trick des unbewussten Maßhaltens wieder.
    Vielleicht rührte ihr mentaler Schluckauf daher, dass der Felsen um sie herum zunehmend aufbrach. Gelegentlich hatte sie, eher unterschwellig, ein leises, flüsterndes Knacken gehört. Hin und wieder war es infolge von Druck aufgetreten, den sie ausübte. Manchmal hatte sie sogar das ferne Klackern eines herabfallenden Steinchens wahrgenommen. Und noch weiter weg den dumpfen Aufprall eines massiven Felsbrockens, der irgendwo dort draußen schwer zu Boden fiel.
    Lediglich ihr Kopf war nicht von dem allgegenwärtigen Zement umschlossen. Ihre Häscher wollten, dass sie dabei zusah, was sie einem anderen Gefangenen im nächsten Raum antaten, erinnerte sie sich. Doch nun war die metallene Schiebetür der kleinen Kammer, in der ihr massiver Sarkophag ruhte, verschlossen und von Rost überzogen, der Streifen an der Zementwand hinterlassen hatte. Ein Käfig aus hässlichen Metallstäben zäunte ihren Kopf ein und ragte aus dem Steinsarg, der um ihren Körper herum in keine quadratische Form gegossen worden war.
    Sie konnte sich vage entsinnen, dass vor einer Ewigkeit Gestalten um den Sarg gestanden und ihr mit einer merkwürdigen Gerätschaft im Gesicht herumgestochert hatten, die heiß, spitz oder beides gewesen war. In der Decke befand sich ein Gehäuse, aus dem nun Drähte baumelten, in dem diese Apparatur mit langen, gelenkigen Armen, glühenden Spitzen und funkelnden Klingen einmal aufgehängt gewesen war. Doch irgendwann war sie weggebracht worden, zur Reparatur oder zur Wiederverwertung, und sie konnte sich ebenso wenig an diesen Zeitpunkt erinnern wie an die schemenhaften Gestalten, die die Vorrichtung bedient hatten. Sie nahm an, dass das ebenso sehr mit ihrem Unwillen zusammenhing, sich zu erinnern, wie mit der langen Zeit, die seitdem verstrichen war.
    Da ihr Kopf freilag, konnte sie beobachten, wie das Wasser alle 30 Sekunden aus einem Spalt in der niedrigen Decke, der wie ein Riss in einer Schädeldecke oder eine Schweißnaht wirkte, auf die flache Oberseite ihres Sargs tröpfelte. Über die Jahre hinweg hatte sie beobachtet, wie sich der Zement verfärbte, verdunkelte und zu einer konkaven Form verzog.
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