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Der Untergang der Hölle (German Edition)

Der Untergang der Hölle (German Edition)

Titel: Der Untergang der Hölle (German Edition)
Autoren: Jeffrey Thomas
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Schließlich waren Risse entstanden und hatten sich allmählich verbreitert, so wie Berge in eine Wüste übergehen. Doch hier setzte sich der Prozess unaufhaltsam fort. Die Risse wurden immer breiter und tiefer. Mal sah sie begierig zu, mal lag sie mit offenen, glasigen Augen schlafend wie eine Tote da. Aber war sie nicht tot? Zumindest daran schien sie sich erinnern zu können.
    Heute – wenngleich von einem Heute oder Morgen zu sprechen wie der Versuch anmutete, ein einzelnes Wassermolekül aus dem Fluss der Ewigkeit herauszufiltern –, heute fiel der letzte Tropfen. Natürlich war es nicht der letzte überhaupt, es würde weitere geben. Aber keinen mehr, dem sie beim Fallen zusehen würde. Das Wasser sammelte sich nicht auf dem konkav verformten Sarkophag, sondern rann, da er schief war, an seiner linken Seite hinunter. An der für sie nicht einsehbaren Flanke hörte sie nun ein plötzliches lautes Krachen wie von Blitz und Donner (diese Formulierung aus einem früheren Leben kam ihr überraschend in den Sinn). Diesem anfänglichen, dramatischen Knall folgten ein Geräusch langsamen Zerbröckelns und das anschwellende Prasseln kleiner Bruchstücke, die über den Boden rollten. Dann polterte unter lautem Getöse, das den Raum erbeben ließ, ein riesiges steinernes Eckstück des Sarkophags auf den Boden der Grabkammer.
    An ihrer nunmehr freigelegten linken Körperhälfte verspürte sie einen Luftzug vom Arm zum Bein hinunter. Nicht frisch, sondern feucht und abgestanden, denn sie hatte in der verschlossenen Kammer zahllose Jahre lang immer wieder dieselbe ein- wie ausgeatmet. Doch immerhin handelte es sich um Luft. Sie versuchte, ihren nicht länger eingeschlossenen Arm in den frei gewordenen Raum auszustrecken, doch ihre Muskeln kamen ihr wie versteinert vor und ihre Gelenke knirschten bei dem Versuch.
    Sie unterdrückte ein gequältes Stöhnen. Sie hatte viele Jahre konstanten Unbehagens hinter sich, doch es war ein gleichbleibendes Unbehagen gewesen, von dem sie sich schließlich hatte distanzieren können. Dieser Schmerz jedoch war neu, frisch und unmittelbar. Sie wartete, bis sie ihren keuchenden Atem wieder unter Kontrolle hatte. Dann versuchte sie, ihr Bein anzuwinkeln, doch diesmal war die Bewegung vorsichtiger, sparsamer. Eine weitere kleine Streckung des Arms. Dann wieder das Bein, und so ging es immer weiter; ein mühseliger Vorgang, der nach irdischer Zeitrechnung Stunden und Tage in Anspruch nahm. Schließlich konnte sie ihr Bein aus dem Zwischenraum des Zements hinausschieben – aus der Gussform, die die Umrisse ihres Körpers und die Weichheit ihrer Haut widerspiegelte und ein Abbild ihrer selbst war, eine geisterhafte Hülle. Jetzt war sie der Kokon, aus dem sie sich nach und nach befreite wie ein Schmetterling, der begierig darauf wartete, seine zarten Flügel zu entfalten.
    Polternd brach noch mehr Gestein weg. Schließlich gelang es ihr, den nackten Fuß auf den Boden zu stellen. Derart abgestützt und mit den Zähnen knirschend vor Qual, tastete sie mit der freien Hand nach der rauen Kante der Wunde im Sarg und drehte sich Stück für Stück seitwärts aus ihm hinaus. Sie musste sich aus den gegossenen Konturen ihrer eigenen Gestalt herauswinden wie ein Säugling aus dem Geburtskanal. Sie stöhnte, während sie den Kopf in die Zementhülle zog und durch die enge Passage quetschte, die ihr Hals hinterlassen hatte.
    Ihre Wangen und ihre Stirn wurden abgeschürft und zerschrammt, beinahe hätte ihr Schädel sich verkeilt und wäre stecken geblieben, doch zu ihrem Glück brach weiterer Zement weg und entließ sie schrittweise in die Freiheit. Endlich schob sich ihr Oberkörper aus seinem Gefängnis und stürzte zu Boden. Sie stieß ein Wimmern aus, als Steinsplitter sich in ihre Seite und den Oberarm gruben. Das rechte Bein steckte noch immer in seiner Gussform fest, doch sie kroch ein Stück vom Sarkophag weg, bis sie es nachholen konnte. Es schlug schwer auf den Boden auf, als sei es abgestorben und nutzlos geworden, und der Schmerz ließ sie erneut aufstöhnen.
    Sie rollte sich auf den Rücken und starrte an die Decke, bis sie fühlte, wie das Leben auch in ihr rechtes Bein zurückkehrte. Leben im übertragenen Sinne. Leben mit der Einschränkung, dass sie – trotz der Pein, die ihr den Atem raubte – nicht wirklich am Leben war. Sie sog keinen Sauerstoff in ihre Lunge, weil sie ihn nicht länger benötigte. Aber dieser Phantomkörper glaubte an seine eigenen Lügen, seine Pseudoempfindungen
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