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Das rote Notizbuch

Das rote Notizbuch

Titel: Das rote Notizbuch
Autoren: Paul Auster
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verlor den Kontakt zu ihrer Freundin, und ich selbst habe sie erst fünfzehn Jahre später wiedergesehen.
    Es war Juni, meine Schwester und ich waren zu einem kurzen Besuch in die Stadt gekommen. Rein zufällig kam ihre alte Freundin vorbei, um guten Tag zu sagen. Sie war jetzt eine junge Frau von zweiundzwanzig Jahren und hatte Anfang des Monats das College abgeschlossen, und ich muß sagen, es machte mich nicht wenig stolz, daß sie es geschafft hatte, unversehrt erwachsen zu werden. Beiläufig erwähnte ich jenen Abend, an dem ich sie unter dem Wagen hervorgezogen hatte. Ich wollte wissen, wie gut sie sich noch an ihre Begegnung mit dem Tod erinnerte, aber die Miene, mit der sie auf meine Frage reagierte, sagte deutlich genug, daß sie sich an gar nichts erinnerte. Ein verständnisloser Blick. Einleichtes Stirnrunzeln. Ein Achselzucken. Sie wußte nichts mehr davon!
    Da erst wurde mir klar: Sie hatte damals gar nicht gemerkt, daß der Wagen sich bewegte. Sie hatte gar nicht gewußt, daß sie sich in Gefahr befand. Für sie war das Ganze die Sache eines Augenblicks gewesen: zehn Sekunden in ihrem Leben, eine belanglose Episode, die nicht den geringsten Eindruck bei ihr hinterlassen hatte. Für mich dagegen waren diese Sekunden ein prägendes Erlebnis gewesen, ein spektakuläres Ereignis in meiner inneren Entwicklung.
    Bei alldem verwirrt es mich am meisten, zugeben zu müssen, daß ich hier von etwas rede, das sich 1956 oder 1957 zugetragen hat – und daß das kleine Mädchen von damals heute über vierzig Jahre alt ist.

13
    Mein erster Roman wurde von einer falschen Nummer inspiriert. Als ich eines Nachmittags allein in meiner Wohnung in Brooklyn am Schreibtisch saß und zu arbeiten versuchte, klingelte das Telefon. Wenn ich mich nicht irre, war das im Frühjahr 1980, wenige Tage nachdem ich die Münze vor dem Shea Stadium gefunden hatte.
    Ich nahm den Hörer ab, und der Mann am anderen Ende der Leitung fragte, ob er mit der Agentur Pinkerton spreche. Ich sagte: Nein, er habe sich verwählt, und legte auf. Dann machte ich mich wieder an die Arbeit, und der Anruf war rasch vergessen.
    Am nächsten Nachmittag ging wieder das Telefon. Derselbe Anrufer und dieselbe Frage wie am Tag zuvor: «Spreche ich mit der Agentur Pinkerton?» Wieder sagte ich: Nein, und wieder legte ich auf. Diesmal jedoch begann ich darüber nachzudenken, was wohl geschehen wäre, hätte ich ja gesagt. Was, wenn ich mich als Detektiv der Agentur Pinkerton ausgegeben hätte? fragte ich mich. Wenn ich den Fall übernommen hätte?
    Ehrlich gesagt, hatte ich das Gefühl, eine seltene Chance vertan zu haben. Falls der Mann noch einmal anrufen sollte, nahm ich mir vor, würde ich wenigstens ein bißchen mit ihm reden und herauszufinden versuchen, worum es eigentlich ging. Ich wartete förmlich auf das Läuten des Telefons, aber es kam kein dritter Anruf mehr.
    Doch das Räderwerk in meinem Kopf war nun einmal in Gang geraten, und nach und nach taten sich mir eine Unmenge von Möglichkeiten auf. Als ich ein Jahr später mit der Niederschrift von
Stadt aus Glas
anfing, war die falsche Nummer das entscheidende Ereignis des Buches geworden, der Irrtum, der die ganze Geschichte in Bewegung setzt. Ein Mann namens Quinn bekommt einen Anruf von jemandem, der den Privatdetektiv Paul Auster sprechen will. Genau wie ich sagt Quinn dem Anrufer, daß er sich verwählt habe. Am nächsten Abend das gleiche, und wieder legt Quinn auf. Anders als ich erhält Quinn jedoch eine dritte Chance. Als am dritten Abend wieder das Telefon läutet, geht er auf den Anrufer ein und übernimmt den Fall. Ja, sagt er, ich bin Paul Auster – und in diesem Augenblick fängt der Wahnsinn an.
    Wichtig war mir vor allem, meinem ursprünglichen Impuls treu zu bleiben. Es schien mir sinnlos, das Buch zu schreiben, wenn ich mich nicht an denGeist dessen hielt, was wirklich geschehen war. Daher mußte ich selbst an der Handlung beteiligt sein (oder zumindest jemand, der mir ähnelte, der meinen Namen trug), und daher mußte die Geschichte auch von Detektiven handeln, die keine Detektive waren, von Maskeraden, von Rätseln, die sich nicht lösen lassen. Was auch immer daraus werden mochte, mir blieb keine andere Wahl.
    Alles schön und gut. Ich habe das Buch vor zehn Jahren beendet, und seither beschäftigen mich andere Projekte, andere Ideen, andere Bücher. Vor weniger als zwei Monaten machte ich jedoch die Erfahrung, daß Bücher niemals fertig sind, daß manche Geschichten sich ohne
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