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Das rote Notizbuch

Das rote Notizbuch

Titel: Das rote Notizbuch
Autoren: Paul Auster
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einen Autor weiterschreiben.
    Als ich an jenem Nachmittag allein in meiner Wohnung in Brooklyn am Schreibtisch saß und zu arbeiten versuchte, klingelte das Telefon. Es war eine andere Wohnung als die, in der ich 1980 gelebt hatte – eine andere Wohnung mit einer anderen Telefonnummer. Ich nahm den Hörer ab, und der Mann am anderen Ende der Leitung fragte, ob er Mr.   Quinn sprechen könne. Er hatte einen spanischen Akzent, die Stimme kam mir unbekannt vor. Zunächst glaubte ich, einer meiner Freunde versuche mich auf den Arm zu nehmen. «Mr.   Quinn?» sagte ich. «Soll das ein Witz sein oder was?»
    Nein, es war kein Witz. Der Mann meinte es völligernst. Er müsse Mr.   Quinn unbedingt sprechen, ich solle ihn jetzt bitte mit ihm verbinden. Nur um mich zu vergewissern, ließ ich mir den Namen buchstabieren. Der Anrufer sprach mit ziemlich starkem Akzent, und ich hoffte, daß er womöglich einen Mr.   Queen sprechen wollte. Pech gehabt. «Q-U-I-N-N», sagte der Mann. Plötzlich wurde mir angst, und einige Sekunden lang bekam ich kein Wort über die Lippen. «Bedaure», sagte ich schließlich, «aber hier wohnt kein Mr.   Quinn. Sie haben sich verwählt.» Der Mann entschuldigte sich für die Störung, dann legten wir beide auf.
    Das ist wirklich geschehen. Wie alles andere, was ich in diesem roten Notizbuch aufgezeichnet habe, ist es eine wahre Geschichte.

Unfallbericht
14
    A., eine junge Frau, die gerade in San Francisco Fuß zu fassen begann, machte dort anfangs eine schlimme Zeit durch, die sie sehr viel Nerven kostete. Binnen weniger Wochen verlor sie erst ihren Job, dann wurde eine ihrer besten Freundinnen nachts in der eigenen Wohnung von Einbrechern ermordet, und schließlich erkrankte A.s geliebte Katze schwer. Um welche Krankheit es sich handelte, weiß ich nicht, aber sie war offenbar lebensbedrohlich, und als A. die Katze zum Tierarzt brachte, sagte er ihr, ohne eine gewisse Operation werde die Katze innerhalb eines Monats sterben. Sie fragte, wieviel diese Operation kosten solle. Er rechnete ihr die verschiedenen Gebühren vor und kam auf eine Gesamtsumme von dreihundertsiebenundzwanzig Dollar. So viel Geld hatte A. nicht. Ihr Kontostand war nahe bei Null, und die nächsten Tage verbrachte sie in einem Zustand äußerster Verzweiflung, indem sie abwechselnd an ihre tote Freundin und den unerschwinglichen Betrag denken mußte, den sie brauchte, um ihre Katze vor demTod zu retten: dreihundertsiebenundzwanzig Dollar.
    Eines Tages fuhr sie mit dem Auto durch den Mission-Bezirk und mußte an einer roten Ampel halten. Ihr Körper war da, aber ihre Gedanken waren woanders, und irgendwo dazwischen, in diesem kleinen Raum, der noch von niemandem hinreichend erforscht wurde, in dem wir alle jedoch manchmal leben, hörte sie plötzlich die Stimme ihrer toten Freundin.
Mach dir keine Sorgen,
sagte die Stimme.
Keine Sorge. Bald wird alles besser.
Die Ampel wurde grün, doch A. stand noch im Bann dieser akustischen Halluzination und blieb einfach stehen. Gleich darauf fuhr ihr von hinten ein anderes Auto in den Wagen und beschädigte eine Heckleuchte und die Stoßstange. Der Fahrer stellte den Motor ab, stieg aus und ging nach vorn zu A.   Er wollte sich für seine Unaufmerksamkeit entschuldigen, aber A. sagte: Nein, es war meine Schuld. Die Ampel war grün, und ich bin nicht losgefahren. Der Mann bestand aber darauf, daß der Fehler ihm anzurechnen sei. Als er erfuhr, daß A. keine Unfallversicherung hatte (für solchen Luxus war sie zu arm), bot er an, den Schaden, den er an ihrem Wagen angerichtet hatte, zu bezahlen. Lassen Sie einen Kostenvoranschlag machen, sagte er, und schicken Sie mir die Rechnung. Meine Versicherung kümmert sich darum. A. sträubte sichweiter und erklärte dem Mann, er habe keinerlei Schuld an dem Unfall, doch er blieb bei seiner Meinung, und schließlich gab sie nach. Sie brachte den Wagen in eine Werkstatt und bat den Mechaniker, die Schäden an Stoßstange und Heckleuchte zu taxieren. Als sie nach einigen Stunden wiederkam, gab er ihr einen schriftlichen Kostenvoranschlag. Von den Zahlen hinterm Komma abgesehen, belief sich der Betrag auf exakt dreihundertsiebenundzwanzig Dollar.
     
    W., der Freund aus San Francisco, der mir diese Geschichte erzählt hat, ist seit zwanzig Jahren Filmregisseur. Sein jüngstes Projekt basiert auf einem Buch, in dem die Abenteuer einer Mutter und ihrer minderjährigen Tochter erzählt werden. Es ist ein Roman, aber die meisten Geschehnisse in dem
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