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Das rote Notizbuch

Das rote Notizbuch

Titel: Das rote Notizbuch
Autoren: Paul Auster
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Buch haben einen direkten Bezug zum Leben der Autorin. Die Autorin, jetzt eine erwachsene Frau, war die Tochter, und die Mutter im Roman – die ebenfalls noch lebt – war ihre wirkliche Mutter.
    W.s Film wurde in Los Angeles gedreht. Für die Rolle der Mutter wurde eine bekannte Schauspielerin engagiert, und als W. mich kürzlich in New York besuchte, erzählte er, die Dreharbeiten seien reibungslos verlaufen und die Produktion habe nachPlan beendet werden können. Dann aber sei er beim Schneiden des Materials zu dem Schluß gekommen, es müßten noch einige Szenen zusätzlich gedreht werden, um die Geschichte besser zur Geltung zu bringen. Unter anderem eine Einstellung, in der die Mutter ihr Auto in einer Wohngegend parken sollte. Der Aufnahmeleiter machte sich auf die Suche nach einer geeigneten Straße, und schließlich entschied man sich für eine – willkürlich, möchte man meinen, denn die Straßen von Los Angeles sehen alle mehr oder weniger gleich aus. Am verabredeten Morgen versammelten sich W., die Schauspielerin und die Filmcrew auf der Straße, um die Szene abzudrehen. Das Auto, das die Schauspielerin fahren sollte, stand vor einem Haus – es war kein bestimmtes Haus, nur irgendein Haus in dieser Straße   –, und während mein Freund und seine Hauptdarstellerin noch auf dem Bürgersteig standen und über die Szene und mögliche Vorgehensweisen diskutierten, ging plötzlich die Tür dieses Hauses auf, und eine Frau, die gleichzeitig zu lachen und zu schreien schien, kam herausgerannt. Abgelenkt von dem Lärm, unterbrachen W. und die Schauspielerin ihr Gespräch. Eine schreiende und lachende Frau lief über den Rasen, und sie lief genau auf die beiden zu. Ich weiß nicht, wie groß dieser Rasen war. W. hat dieses Detail in seiner Erzählung nicht erwähnt, doch ich stelle mireinfach vor, er war ziemlich groß, so daß die Frau eine beträchtliche Strecke zurücklegen mußte, ehe sie den Bürgersteig erreichte und ihren Namen nennen konnte. Ein Augenblick wie dieser muß einfach ausgedehnt sein, finde ich – wenn auch nur auf einige Sekunden   –, denn was nun geschah, war so unglaublich, spottete dermaßen jeder Wahrscheinlichkeit, daß man es noch einige zusätzliche Sekunden lang genießen möchte, bevor man sich davon trennt. Die Frau, die da über den Rasen lief, war die Mutter der Romanautorin. Im Buch ihrer Tochter eine fiktive Gestalt, war sie auch ihre richtige Mutter, und jetzt sollte sie durch puren Zufall die Frau kennenlernen, die diese fiktive Gestalt in einem Film spielte, der auf dem Buch basierte, in dem ihre Gestalt in Wirklichkeit sie selbst gewesen war. Sie war real, zugleich aber auch imaginär. An diesem Morgen standen dort auf dem Bürgersteig zwei Gestalten in einer einzigen Person. Oder vielleicht auch ein und dieselbe Gestalt in zweifacher Ausführung. Mein Freund erzählte, als die beiden Frauen schließlich begriffen hätten, was da geschehen war, seien sie sich in die Arme gefallen.
     
    Vorigen September mußte ich für ein paar Tage nach Paris, und mein Verleger buchte mir ein Zimmerin einem kleinen Hotel am linken Seineufer. Es ist das Hotel, das der Verlag für alle seine Autoren verwendet, und ich war in der Vergangenheit schon mehrmals dort abgestiegen. Von der günstigen Lage einmal abgesehen – in einer schmalen Nebenstraße des Boulevards Saint Germain – ist an diesem Hotel nichts auch nur entfernt bemerkenswert. Die Preise sind bescheiden, die Zimmer klein und eng, und es wird in keinem Reiseführer erwähnt. Die Inhaber sind freundliche Leute, aber das Haus selbst ist nur eine triste, unscheinbare Bruchbude, und außer zwei amerikanischen Schriftstellern, die denselben französischen Verleger wie ich haben, kenne ich niemanden, der dort jemals gewohnt hat. Ich erwähne das, weil die Unbekanntheit des Hotels in dieser Geschichte von Bedeutung ist. Nur wenn man kurz innehält und überlegt, wie viele Hotels es in Paris gibt (in einer Stadt, die mehr Besucher anlockt als jede andere auf der Welt), und darüber hinaus, wie viele Zimmer es in all diesen Hotels gibt (Tausende, mit Sicherheit Zehntausende), nur dann kann man die ganze Tragweite dessen verstehen, was mir dort voriges Jahr widerfahren ist.
    Ich kam erst spät an – über eine Stunde später als geplant – und meldete mich an der Rezeption. Unmittelbar darauf ging ich nach oben. Gerade als ich den Schlüssel ins Schloß meiner Zimmertür steckte,begann drinnen das Telefon zu läuten. Ich ging
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