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Das rote Notizbuch

Das rote Notizbuch

Titel: Das rote Notizbuch
Autoren: Paul Auster
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zurückgesehnt.
    Als die Freundin meiner Bekannten den ursprünglichen tschechischen Namen des Mannes erfuhr, bestand kein Zweifel mehr, daß es ihr Vater war.
    Da der Vater ihres Mannes mit ihrem eigenen identisch war, bedeutete das natürlich, daß der Mann, den sie geheiratet hatte, gleichzeitig auch ihr Bruder war.

12
    Vor vielen Jahren würgte mein Vater an einer roten Ampel seinen Wagen ab. Ein furchtbares Gewitter tobte an jenem Nachmittag, und genau in dem Augenblick, als der Motor ausging, schlug am Straßenrand der Blitz in einen großen Baum. Der Stamm brach in zwei Teile, und während mein Vater noch den Wagen wieder in Gang zu bringen versuchte (ohne zu merken, daß die obere Hälfte des Baums gleich herabstürzen würde), erkannte der Fahrer des Wagens hinter ihm die Gefahr, gab Gas und schob das Auto meines Vaters über die Kreuzung. Sekunden später krachte der Baum exakt auf die Stelle, wo eben noch mein Vater gestanden hatte. Es wäre sein Ende gewesen, so aber war es gerade noch einmal gutgegangen, bloß eine kurze Episode in der laufenden Geschichte seines Lebens.
    Ein, zwei Jahre später arbeitete mein Vater auf dem Dach eines Gebäudes in Jersey City. Aus irgendeinem Grund (ich habe es nicht mit eigenen Augen gesehen) rutschte er über die Kante und setzte zum freien Fall an. Wieder schien die Katastropheunausweichlich, und wieder wurde er gerettet. Eine Wäscheleine bremste seinen Sturz, und als er aufstand, hatte er nur ein paar Beulen und Hautabschürfungen. Nicht einmal eine Gehirnerschütterung. Kein einziger Knochen gebrochen.
    Im selben Jahr ließen sich unsere Nachbarn gegenüber von zwei Männern das Haus anstreichen. Einer der Arbeiter fiel vom Dach und starb.
    Das kleine Mädchen, das in diesem Haus wohnte, war zufällig die beste Freundin meiner Schwester. An einem Winterabend gingen die beiden zu einer Kostümparty (sie waren sechs oder sieben Jahre alt, und ich war neun oder zehn). Es war verabredet, daß mein Vater sie nach der Party abholen würde, und als es soweit war, fuhr ich mit, um ihm im Auto Gesellschaft zu leisten. Es war bitter kalt an diesem Abend, und die Straßen waren mit einer tückischen Eisdecke überzogen. Mein Vater fuhr vorsichtig, und wir überstanden die Hin- und Rückfahrt ohne Zwischenfall. Doch als wir vor dem Haus der Kleinen vorfuhren, trat eine ganze Reihe unwahrscheinlicher Ereignisse auf einmal ein.
    Die Freundin meiner Schwester war als Fee verkleidet. Zur Vervollständigung des Kostüms hatte sie sich von ihrer Mutter ein Paar Stöckelschuhe ausgeliehen, und da ihr diese Schuhe viel zu groß waren, geriet jeder einzelne Schritt zu einem Abenteuer.Mein Vater brachte den Wagen zum Stehen und stieg aus, weil er sie noch zur Haustür begleiten wollte. Ich saß mit den Mädchen hinten und mußte aussteigen, um die Freundin meiner Schwester hinauszulassen. Ich weiß noch, wie ich auf dem Bordstein stand, während sie von der Rückbank kroch, und dann, gerade als sie ins Freie kam, bemerkte ich, daß der Wagen langsam rückwärts rollte – entweder lag es am Glatteis, oder mein Vater hatte vergessen, die Handbremse zu ziehen (ich weiß es nicht)   –, doch ehe ich meinen Vater darauf hinweisen konnte, kam die Freundin meiner Schwester mit den Stöckelschuhen ihrer Mutter an den Bordstein und glitt aus. Sie rutschte unter das Auto – das sich noch immer bewegte – und war drauf und dran, von den Reifen unseres Chevy zu Tode gequetscht zu werden. Wie ich es in Erinnerung habe, gab sie keinen Ton von sich. Ohne nachzudenken, beugte ich mich vor, packte ihre rechte Hand und zog sie mit einer raschen Bewegung auf den Bürgersteig. Eine Sekunde später bemerkte endlich auch mein Vater, daß der Wagen sich bewegte. Er sprang auf den Fahrersitz, trat auf die Bremse und brachte den Schlitten zum Stehen. Die ganze Kette von Mißgeschicken kann von Anfang bis Ende höchstens acht bis zehn Sekunden gedauert haben.
    Noch Jahre danach sonnte ich mich in dem Gefühl,etwas wahrhaft Großes geleistet zu haben. Ich hatte einem Menschen das Leben gerettet, und im nachhinein staunte ich immer wieder, wie schnell ich gehandelt hatte, wie sicher meine Bewegungen im entscheidenden Augenblick gewesen waren. Immer wieder durchlebte ich diese Rettungsaktion; immer wieder spielte sich vor meinem inneren Auge die Szene ab, wie ich dieses kleine Mädchen unter dem Wagen hervorzog.
    Etwa zwei Jahre nach diesem Ereignis zog unsere Familie in ein anderes Haus. Meine Schwester
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