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Das rote Notizbuch

Das rote Notizbuch

Titel: Das rote Notizbuch
Autoren: Paul Auster
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erfüllt gewesen.
    Ich selbst erfuhr erst zu diesem Zeitpunkt von den unglaublichen Umwälzungen, die sich in C.s Leben vollzogen hatten. Im Zug von Paris nach Lyon (auf dem Weg zum ersten Besuch bei seiner «Stiefmutter») schrieb er mir einen Brief, in dem er mir die Geschichte des letzten Monats in groben Umrissen mitteilte. In seiner Handschrift spiegelt sich jedes Rütteln der Gleise, als sei die Geschwindigkeit des Zuges ein exaktes Abbild der Gedanken, die ihm durch den Kopf stürmten. Irgendwo in diesem Brief schreibt er: «Es kommt mir vor, als wäre ich zu einer Figur in einem Deiner Romane geworden.»
    Die Frau seines Vaters behandelte ihn während seines Besuchs mit aller erdenklichen Freundlichkeit. C. erfuhr unter anderem, daß sein Vater am Morgen seines letzten Geburtstags (also an demselben Tag, an dem C. seine Adresse im
Minitel
nachgesehenhatte) einen Herzinfarkt erlitten hatte, und daß er, C., zur Zeit der Scheidung seiner Eltern tatsächlich genau dreieinhalb Jahre alt gewesen war. Die Stiefmutter erzählte ihm auch seine Lebensgeschichte aus der Sicht seines Vaters – und die widersprach in allen Punkten dem, was die Mutter ihm erzählt hatte. Nach dieser Version war es seine Mutter, die den Vater verlassen hatte; es war seine Mutter, die dem Vater verboten hatte, ihn zu sehen; es war seine Mutter, die dem Vater das Herz gebrochen hatte. Sie erzählte C., als er ein kleiner Junge gewesen sei, habe sein Vater oft am Schulhof gestanden, um ihn durch den Zaun zu beobachten. C. konnte sich an diesen Mann erinnern, er hatte damals Angst vor ihm gehabt, weil er ihn nicht kannte.
    Nun hatte C. zwei Leben. Es gab die Versionen A und B, und beide waren seine Geschichte. Beide hatte er zu gleichen Teilen gelebt, zwei Wahrheiten, die einander aufhoben, und er hatte die ganze Zeit über, ohne etwas davon zu ahnen, in der Mitte gehangen.
    Sein Vater hatte einen kleinen Schreibwarenladen besessen (das übliche Angebot von Papier und Schreibutensilien, dazu eine Leihbücherei mit populären Büchern). Das Geschäft brachte ihm genug zum Leben ein, viel mehr aber auch nicht, und so war sein Nachlaß auch recht bescheiden. Die Zahlensind jedoch nicht von Belang. Wichtig ist, daß C.s Stiefmutter (inzwischen eine alte Frau) es sich nicht nehmen ließ, das Geld halb und halb mit ihm zu teilen. Im Testament war davon keine Rede, und auch moralisch war sie keineswegs verpflichtet, auch nur einen Sou von den Ersparnissen ihres Mannes herauszugeben. Sie tat es, weil sie es wollte, weil sie glücklicher damit war, das Geld zu teilen, als es für sich zu behalten.

10
    Beim Thema Freundschaft, besonders wenn ich darüber nachdenke, wie manche Freundschaften Bestand haben und andere nicht, fällt mir unwillkürlich ein, daß ich in all meinen Jahren als Autofahrer erst vier Reifenpannen gehabt habe und daß dabei jedesmal dieselbe Person mit mir im Wagen gesessen hat (in drei verschiedenen Ländern, verteilt auf einen Zeitraum von acht bis neun Jahren). J. und ich kannten uns vom College her, und obwohl unsere Freundschaft nie ganz frei von Zwist und Unbehagen war, kamen wir eine Zeitlang gut miteinander aus. Einmal im Frühling, noch während des Studiums, liehen wir uns den uralten Kombi meines Vaters und fuhren in die Wildnis von Quebec hinauf. Dort herrschte noch Winter, denn in diesem Teil der Welt vollzieht sich der Wechsel der Jahreszeiten langsamer als anderswo. Die erste Reifenpanne war kein Problem (wir hatten einen Ersatzreifen dabei), doch als keine Stunde später der zweite Reifen platzte, saßen wir fast den ganzen Tag in der frostigen rauhen Landschaft fest. Damals bin ich miteinem Achselzucken darüber hinweggegangen, es war eben Pech; aber als J. vier, fünf Jahre später nach Frankreich kam und L. und mich in dem Haus besuchte, wo wir als Verwalter arbeiteten (er war in elender Verfassung, wie gelähmt vor Gram und Selbstmitleid, und merkte nicht, daß er unsere Gastfreundschaft strapazierte), geschah das gleiche. Wir fuhren für einen Tag nach Aix-en-Provence (eine Fahrt von etwa zwei Stunden), und auf dem Rückweg, spätabends auf einer dunklen, abgelegenen Landstraße, hatten wir wieder einen Platten. Zufall, dachte ich und verdrängte den Vorfall aus meinen Gedanken. Aber vier Jahre später, in den letzten Monaten meiner Ehe mit L., war J. wieder bei uns zu Besuch – diesmal im Bundesstaat New York, wo L. und ich mit dem kleinen Daniel lebten. Eines Tages stiegen J. und ich ins Auto, um etwas zum
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