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Das rote Notizbuch

Das rote Notizbuch

Titel: Das rote Notizbuch
Autoren: Paul Auster
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hebt der Verfasser an, in einem pompösen, hochgestochenen Stil, vermengt mit Zitaten französischer Philosophen, und in einem von Dünkel und Selbstzufriedenheit triefenden Tonfall «Robert» für die Ideen zu loben, die er anläßlich eines Collegekurses über den zeitgenössischen Roman zu einem meiner Bücher entwickelt habe. Der Brief war geradezu niederträchtig, nicht im Traum würde mir einfallen, jemandem etwas Derartiges zu schreiben, und doch war er mit meinem Namen unterzeichnet. Die Handschrift hatte mit meiner keine Ähnlichkeit, aber das war nur ein schwacher Trost. Irgend jemand da draußen versuchte sich für mich auszugeben, und soviel ich weiß, tut er das noch immer.
    Ein Freund behauptete, es handele sich hier um einen Fall von «Briefkunst». Der Verfasser habe gewußt, daß der Brief nicht an Robert Morgan gelangen konnte (da dieser gar nicht existiere), und seine Auslassungen daher tatsächlich an mich adressiert.Dies aber würde einen durch nichts gerechtfertigten Glauben an die amerikanische Post voraussetzen, und ich bezweifle auch, daß jemand, der sich die Mühe macht, Adressenaufkleber mit meinem Namen zu bestellen und dann einen so arroganten, hochtrabenden Brief zu schreiben, irgend etwas dem Zufall überlassen würde. Oder doch? Vielleicht glauben die Wichtigtuer dieser Welt ja wirklich, daß alles stets nach ihren Wünschen läuft.
    Ich habe wenig Hoffnung, jemals Licht in dieses kleine Geheimnis zu bringen. Der Scherzbold hat seine Spuren gründlich verwischt und sich seither auch nicht mehr gemeldet. An mir selbst verwirrt mich dabei, daß ich den Brief nicht fortgeworfen habe, obwohl es mich noch immer jedesmal schaudert, wenn ich ihn ansehe. Ein vernünftiger Mensch hätte den Schrieb in die Mülltonne geschmissen. Statt dessen habe ich ihn, aus mir unerfindlichen Gründen, seit drei Jahren auf meinem Schreibtisch liegen und zum festen Inventar zwischen meinen Bleistiften, Notizbüchern und Radiergummis werden lassen. Vielleicht behalte ich ihn als Denkmal meiner eigenen Torheit. Vielleicht will ich mich auf diese Weise daran erinnern, daß ich nichts weiß, daß die Welt, auf der ich lebe, sich mir ewig entziehen wird.

9
    Einer meiner engsten Freunde ist der französische Dichter C.   Wir kennen uns jetzt seit über zwanzig Jahren, und daß wir uns nur selten sehen (er lebt in Paris, ich in New York), kann unserer Verbindung nichts anhaben. Es ist eine brüderliche Verbundenheit, als wären wir in einem früheren Leben tatsächlich Brüder gewesen.
    C. vereint vielfältige Widersprüche in sich. Er ist zugleich weltoffen und weltabgewandt, eine charismatische Gestalt mit zahlreichen Freunden (berühmt für seine Freundlichkeit, seinen Humor, seine geistreiche Konversation) und ein vom Leben Verwundeter, der einfache Dinge, die anderen Menschen selbstverständlich sind, nur mit Mühe zustande bringt. C. ist ein außergewöhnlich begabter Poet und Poetologe, doch lähmen ihn häufig Schreibhemmungen und morbide Selbstzweifel sowie (was bei einem so großmütigen Menschen, der vollkommen ohne Arg ist, überraschen mag) langwierige Zerwürfnisse und Streitigkeiten über meist belanglose oder abstrakte Prinzipien. Niemand genießtgrößere allgemeine Bewunderung als er, niemand verfügt über mehr Talent, niemand gerät so mühelos ins Zentrum der Aufmerksamkeit, und dennoch hat er stets getan, was er konnte, um sich an den Rand zu drücken. Er hat sich vor vielen Jahren von seiner Frau getrennt; seither wohnt er in oft wechselnden kleinen Einzimmerapartments, lebt fast ohne Geld und nur von sporadischen Arbeiten, veröffentlicht wenig und weigert sich, auch nur die kleinste Rezension zu schreiben, obwohl er alles liest und mehr über die zeitgenössische Dichtung weiß als jeder andere Franzose. Denjenigen von uns, die ihn lieben (und wir sind viele), gibt C. oft Anlaß zur Beunruhigung. Im gleichen Maße, wie wir ihn respektieren und uns sein Wohlergehen am Herzen liegt, machen wir uns Sorgen um ihn.
    Er hatte eine schwere Kindheit. Ich kann nicht sagen, ob sich damit irgend etwas erklären läßt, aber die Tatsache darf man nicht übersehen. Als C. noch ein kleiner Junge war, ist sein Vater offenbar mit einer anderen Frau durchgebrannt, und danach wuchs mein Freund als Einzelkind ohne nennenswertes Familienleben bei seiner Mutter auf. Ich habe C.s Mutter nie kennengelernt, aber nach allem, was man hört, muß sie eine bizarre Persönlichkeit sein. In C.s Kindheit und Jugend
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