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Das rote Notizbuch

Das rote Notizbuch

Titel: Das rote Notizbuch
Autoren: Paul Auster
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hatte sie etliche Affären mit Männern, einer jünger als der andere. Als C. miteinundzwanzig von zu Hause wegging und in die Armee eintrat, war der gerade aktuelle Liebhaber seiner Mutter kaum älter als er selbst. Seit einigen Jahren ist der Hauptzweck ihres Lebens eine Kampagne für die Heiligsprechung eines gewissen italienischen Priesters (dessen Name mir jetzt nicht einfällt). Sie bestürmt die katholischen Kirchenoberen mit zahllosen Briefen, in denen sie die Heiligkeit dieses Mannes herausstellt, und hat sogar einmal einen Künstler mit der Schaffung einer lebensgroßen Statue des Priesters beauftragt – die jetzt als dauerhaftes Zeugnis ihres Engagements bei ihr im Vorgarten steht.
    C. selbst hat zwar keine Kinder, ist aber vor sieben, acht Jahren eine Art Pseudovater geworden. Nach einem Streit mit seiner Freundin (dem sich eine zeitweilige Trennung anschloß) hatte diese eine kurze Affäre mit einem anderen und wurde schwanger. Die Affäre endete ziemlich abrupt, doch auf das Kind wollte sie nicht verzichten. Es war ein Mädchen, und obwohl C. nicht der wirkliche Vater war, widmete er sich der Kleinen seit dem Tag ihrer Geburt mit Hingabe und liebt sie heiß und innig wie sein eigen Fleisch und Blut.
    Vor etwa vier Jahren war C. einmal bei einem Freund zu Besuch. In der Wohnung stand ein
Minitel
, ein kleiner Computer, der von der französischen Telefongesellschaft kostenlos ausgegeben wird. Soein
Minitel
enthält unter anderem die Adressen und Telefonnummern aller in Frankreich lebenden Personen. Als C. dort saß und mit dem neuen Gerät herumspielte, kam er plötzlich auf die Idee, die Adresse seines Vaters nachzuschlagen. Er fand sie in Lyon. Kurz darauf ging er nach Hause zurück, steckte eins seiner Bücher in einen Umschlag und schickte es an die Lyoner Anschrift – wodurch er zum erstenmal seit über vierzig Jahren Kontakt mit seinem Vater aufnahm. Das Ganze erschien ihm völlig abwegig. Bis er sich bei diesem Schritt ertappte, war es ihm nie in den Sinn gekommen, dergleichen tun zu wollen.
    Am Abend dieses Tages hatte er in einem Café noch eine Begegnung – mit einer befreundeten Psychoanalytikerin, der er von seiner merkwürdigen ungeplanten Handlung erzählte. Es sei ihm, als habe sein Vater nach ihm gerufen, sagte er, als habe sich irgendeine unheimliche Macht in seinem Innern verselbständigt. Da er absolut keine Erinnerung an den Mann habe, könne er noch nicht einmal sagen, wann sie einander das letzte Mal gesehen hätten.
    Die Frau dachte kurz nach und fragte dann: «Wie alt ist L.?» Sie meinte die Tochter von C.s Freundin.
    «Dreieinhalb», antwortete C.
    «Ich bin mir nicht sicher», sagte die Frau, «aber ich würde wetten, daß Sie selbst auch dreieinhalbJahre alt waren, als Sie Ihren Vater das letzte Mal gesehen haben. Ich sage das, weil Sie L. so lieben. Sie identifizieren sich sehr mit ihr, und Sie leben durch sie Ihr Leben noch einmal.»
    Einige Tage später kam aus Lyon die Antwort – ein freundlicher, geradezu herzlicher Brief von C.s Vater. Er dankte C. für das Buch und schrieb ihm dann, mit welchem Stolz er vernommen habe, daß sein Sohn Schriftsteller geworden sei. Rein zufällig, fügte er hinzu, sei das Päckchen an seinem Geburtstag abgeschickt worden, und die symbolische Bedeutung dieser Geste habe ihn tief berührt.
    Nichts davon paßte zu den Geschichten, die C. in seiner Kindheit ständig gehört hatte. Seiner Mutter zufolge war sein Vater ein egoistischer Unmensch, der sie wegen einer «Schlampe» verlassen hatte und mit seinem Sohn nie etwas zu tun haben wollte. C. hatte diese Geschichten geglaubt und daher jede Kontaktaufnahme mit seinem Vater gescheut. Jetzt, nach diesem Brief, wußte er nicht mehr, was er glauben sollte.
    Er entschloß sich zu antworten. Seine Reaktion war zurückhaltend, aber immerhin war es eine Reaktion. Nur wenige Tage später kam wieder eine Antwort, und dieser zweite Brief war ebenso warm und herzlich wie der erste. C. und sein Vater begannen eine Korrespondenz. Und nach ein, zwei Monatenschließlich kam C. auf den Gedanken, nach Lyon zu fahren und seinen Vater persönlich kennenzulernen.
    Bevor er irgendwelche festen Pläne machen konnte, kam ein Brief von der Frau seines Vaters, worin sie ihm mitteilte, daß sein Vater gestorben sei. Er habe in den vergangenen Jahren gesundheitliche Probleme gehabt, schrieb sie, aber der Briefwechsel mit C. habe ihn sehr glücklich gemacht, und seine letzten Tage seien von Optimismus und Lebensfreude
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