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Das rote Notizbuch

Das rote Notizbuch

Titel: Das rote Notizbuch
Autoren: Paul Auster
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Abendessen zu besorgen. Ich setzte den Wagen aus der Garage, wendete auf der unbefestigten Einfahrt, hielt an der Straße, sah nach links, rechts und links und wollte losfahren. In diesem Augenblick, als ich noch einen vorbeikommenden Wagen abwartete, vernahm ich das unverkennbare Zischen. Wieder war einem Reifen die Luft ausgegangen, und diesmal hatten wir noch nicht einmal das Grundstück verlassen. J. und ich lachten natürlich, aber fest steht, daß unsere Freundschaft sich von dieser viertenReifenpanne nie mehr richtig erholt hat. Ich sage nicht, diese Reifenpannen seien der Grund für unsere Entfremdung gewesen, doch auf irgendeine verquere Art waren sie ein Symbol dafür, wie es immer zwischen uns gestanden hatte, das Zeichen eines unfaßlichen Fluchs. Ich will nicht übertreiben, aber noch heute fällt es mir schwer, diese Reifenpannen als bedeutungslos abzutun. Denn Tatsache ist, daß J. und ich keinen Kontakt mehr haben, daß wir seit über zehn Jahren nicht mehr miteinander gesprochen haben.

11
    1990 war ich wieder einmal für ein paar Tage in Paris. Eines Nachmittags besuchte ich eine Bekannte von mir in ihrem Büro und wurde dort einer Tschechin vorgestellt – sie mochte Ende Vierzig oder Anfang Fünfzig sein, war Kunsthistorikerin und eine Freundin meiner Bekannten. Eine attraktive und lebhafte Person, das weiß ich noch, aber da sie eben gehen wollte, als ich kam, verbrachte ich höchstens fünf bis zehn Minuten in ihrer Gesellschaft. Wie in solchen Fällen üblich, sprachen wir über nichts Besonderes: eine Stadt in Amerika, die wir beide kannten; ein Buch, das sie gerade las; das Wetter. Dann gaben wir uns die Hand, sie schritt aus der Tür, und ich habe sie nie wiedergesehen.
    Nachdem sie gegangen war, lehnte sich meine Bekannte in ihrem Sessel zurück und sagte: «Willst du eine gute Geschichte hören?»
    «Natürlich», sagte ich, «an guten Geschichten bin ich immer interessiert.»
    «Ich habe meine Freundin sehr gern», fuhr sie fort, «also komm nicht auf falsche Gedanken. Esgeht mir nicht darum, Gerüchte über sie zu verbreiten. Ich habe nur das Gefühl, du hast ein Recht darauf, das zu erfahren.»
    «Bist du sicher?»
    «Ja, bin ich. Aber eins mußt du mir versprechen. Falls du die Geschichte jemals aufschreibst, darfst du keine Namen nennen.»
    «Ist versprochen», sagte ich.
    Darauf weihte mich meine Bekannte in das Geheimnis ein. Sie hat für die ganze Geschichte, die ich jetzt wiedergeben will, keine drei Minuten gebraucht.
    Die Frau, die ich eben kennengelernt hatte, kam während des Krieges in Prag zur Welt. Als sie noch ein Baby war, wurde ihr Vater gefangengenommen, zum Dienst in der deutschen Armee zwangsverpflichtet und nach Rußland an die Front geschickt. Sie und ihre Mutter haben nie mehr von ihm gehört. Sie bekamen keine Briefe, keine Nachrichten, ob er noch lebte oder schon tot war, nichts. Der Krieg hatte ihn einfach verschlungen, er war spurlos verschwunden.
    Jahre vergingen. Das Mädchen wuchs heran. Sie beendete ihr Studium und wurde Professorin für Kunstgeschichte. Meiner Bekannten zufolge bekam sie während des russischen Einmarschs Ende der sechziger Jahre Schwierigkeiten mit der Regierung,aber worin genau diese Schwierigkeiten bestanden, ist mir nie ganz klargeworden. In Anbetracht der Geschichten, die ich von anderen Leuten aus dieser Zeit kenne, kann ich es mir aber ungefähr denken.
    Irgendwann durfte sie ihre Lehrtätigkeit wiederaufnehmen. In einem ihrer Seminare war ein Austauschstudent aus Ostdeutschland. Sie und der junge Mann verliebten sich ineinander, und am Ende heirateten sie.
    Kurz nach der Hochzeit kam ein Telegramm mit der Nachricht vom Tod ihres Schwiegervaters. Am nächsten Tag fuhren sie und ihr Mann zur Beerdigung nach Ostdeutschland. Dort, in welchem Ort es auch gewesen sein mag, erfuhr sie, daß ihr verstorbener Schwiegervater in der Tschechoslowakei geboren war.
    Während des Krieges war er von den Nazis gefangengenommen, zum Dienst in der deutschen Armee zwangsverpflichtet und nach Rußland an die Front geschickt worden. Wie durch ein Wunder hatte er überlebt. Anstatt jedoch nach dem Krieg in die Tschechoslowakei zurückzukehren, hatte er sich unter einem neuen Namen in Deutschland niedergelassen, eine Deutsche geheiratet und mit seiner neuen Familie bis zu seinem Tod in diesem Land gelebt. Der Krieg hatte ihm die Chance gegeben, noch einmal ganz von vorn anzufangen, undwie es scheint, hat er sich nie nach dem alten Leben
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