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Das rote Notizbuch

Das rote Notizbuch

Titel: Das rote Notizbuch
Autoren: Paul Auster
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bemerkenswerte Frauen heimführen können. Aber keine ist gut genug für dich, du hast sie alle abgewiesen. Was hast du bloß, B.? Was erwartest du denn eigentlich?
    Ich habe überhaupt nichts, sagte B.   Ich habe bloß noch nicht die Richtige gefunden, das ist alles.
    Bei deinem Verschleiß wird dir das nie gelingen, erwiderte der Freund. Ich meine, hast du jemals eine Frau kennengelernt, die dem, was du suchst, nahekommt?Nenn mir eine. Na los, nenn mir eine, eine einzige.
    Verblüfft von der Heftigkeit seines Freundes, wurde B. still und dachte sorgfältig über die Frage nach. Ja, sagte er schließlich, eine habe es gegeben. Ihr Name sei E., er habe sie vor über zwanzig Jahren während seines Studiums in Harvard kennengelernt. Aber sie sei damals mit einem anderen zusammengewesen, und er selbst habe auch eine andere gehabt (seine künftige Exfrau), deshalb habe sich nichts mit ihr ergeben. Er habe keine Ahnung, wo E. jetzt lebe, sagte er, aber wenn er jemanden wie sie kennenlernen könnte, würde er mit Sicherheit nicht zögern, noch einmal zu heiraten.
    Damit war das Telefonat zu Ende. Bis er sie seinem Freund gegenüber erwähnt hatte, hatte er mehr als zehn Jahre lang nicht an diese Frau gedacht, aber jetzt, da sie wieder in seinen Gedanken aufgetaucht war, konnte er kaum noch an etwas anderes denken. Ich den nächsten drei, vier Tagen dachte er unablässig an sie, er konnte das Gefühl nicht loswerden, daß er vor vielen Jahren seine einzige Chance auf ein glückliches Leben verspielt hatte. Und dann, fast als wäre durch die Intensität dieser Gedanken ein Signal in die Welt hinausgeschickt worden, klingelte eines Abends das Telefon, und am anderen Ende der Leitung war E.
    B. ließ sie erst nach über drei Stunden wieder auflegen. Er wußte kaum, was er zu ihr sagte, redete aber bis nach Mitternacht weiter, denn ihm war klar, daß sich etwas Wichtiges ereignet hatte und daß er diese Frau nicht noch einmal ziehen lassen durfte.
    E. hatte sich nach dem Collegeabschluß einer Tanztruppe angeschlossen und dann zwanzig Jahre lang nur für ihre Karriere gelebt. Geheiratet hatte sie nicht, und nun, da sie als Tänzerin aufhören wollte, versuchte sie wieder Kontakt mit der Welt aufzunehmen und rief alte Freunde aus ihrer Vergangenheit an. Sie hatte keine Familie (ihre Eltern waren bei einem Autounfall ums Leben gekommen, als sie noch ein kleines Mädchen war) und war bei zwei Tanten aufgewachsen, die inzwischen beide gestorben waren.
    B. verabredete sich mit ihr für den nächsten Abend. Als sie erst zusammensaßen, brauchte er nicht lange, um festzustellen, daß seine Gefühle für sie tatsächlich genauso stark waren, wie er sich vorgestellt hatte. Er verliebte sich noch einmal in sie, und einige Wochen später waren sie verlobt.
    Und was die Geschichte noch perfekter machte: Es stellte sich heraus, daß E. finanziell vollkommen unabhängig war. Ihre Tanten waren reich gewesen, und nach ihrem Tod hatte sie das ganze Geld geerbt – B. hatte also nicht nur seine wahre Liebe gefunden,sondern war auch plötzlich die drückenden Geldsorgen los, die ihn seit so vielen Jahren geplagt hatten. Und das alles auf einen Streich.
    Ein, zwei Jahre nach der Hochzeit bekamen sie ein Kind. Nach jüngsten Berichten sind Mutter, Vater und Baby glücklich und zufrieden.

6
    In so ziemlich die gleiche Richtung, jedoch über eine kürzere Zeitspanne (einige Monate im Gegensatz zu zwanzig Jahren) geht eine Geschichte, die ich von R. habe, einem Freund, der vergeblich in Buchhandlungen und Katalogen nach einem gewissen ausgefallenen Buch gefahndet hatte, einem, wie er meinte, außergewöhnlichen Werk, das er unbedingt lesen wollte. Eines Nachmittags nahm er auf dem Weg durch die Stadt eine Abkürzung durch die Grand Central Station, stieg die Treppe zur Vanderbilt Avenue hinauf und erblickte dort am Marmorgeländer eine junge Frau mit einem Buch in der Hand: es war dasjenige, das er so dringend gesucht hatte.
    Obgleich er normalerweise nicht zu denen gehört, die Fremde ohne weiteres ansprechen, war R. von diesem Zufall so verblüfft, daß er nicht schweigen konnte. «Ob Sie’s glauben oder nicht», sagte er zu der jungen Frau, «nach diesem Buch habe ich überall gesucht.»
    «Es ist wunderbar», antwortete die junge Frau. «Ich bin gerade damit fertig geworden.»
    «Wissen Sie, wo ich es mir kaufen könnte?» fragte R. «Ich kann Ihnen gar nicht sagen, wieviel mir daran liegt.»
    «Nehmen Sie meins», antwortete die Frau.
    «Aber
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