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Das rote Notizbuch

Das rote Notizbuch

Titel: Das rote Notizbuch
Autoren: Paul Auster
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hinein, warf meine Tasche auf den Boden und nahm den Hörer ab. Das Telefon stand in einer Nische in der Wand neben dem Bett, etwa auf Höhe des Kopfkissens. Da das Telefon zum Bett hin gedreht war und da die Schnur zu kurz war und der einzige Stuhl im Zimmer außer Reichweite war, mußte ich mich, um telefonieren zu können, aufs Bett setzen. Das tat ich dann auch, und während ich mit dem Anrufer sprach, bemerkte ich unter dem Schreibtisch auf der anderen Seite des Zimmers ein Stück Papier. Von jedem anderen Platz aus hätte ich es nicht sehen können. Das Zimmer war so knapp bemessen, daß zwischen dem Schreibtisch und dem Fußende des Betts höchstens anderthalb Meter frei waren. Meine Position am Kopfende des Betts bot die einzige Möglichkeit, den einzigen Blickwinkel, um unter den Schreibtisch sehen zu können. Als das Gespräch beendet war, kletterte ich vom Bett, kroch unter den Schreibtisch und hob den Zettel auf. Neugierig, immer neugierig, natürlich, aber durchaus nicht in der Annahme, irgend etwas Außergewöhnliches zu entdecken. Der Zettel erwies sich als einer dieser Vordrucke, wie sie einem in europäischen Hotels unter die Tür geschoben werden. An: --- Von: ---, Datum und Uhrzeit, darunter etwas Platz für eine kurze Mitteilung. Das Papier war dreimal gefaltet, und außenstand in Blockschrift der Name eines meiner besten Freunde geschrieben. Wir sehen uns nicht oft (O. lebt in Kanada), aber wir haben zusammen eine Reihe denkwürdiger Erfahrungen gemacht und sind uns in herzlicher Freundschaft zugetan. Ich freute mich sehr, als ich seinen Namen auf diesem Zettel sah. Wir hatten seit einiger Zeit nicht mehr voneinander gehört, und ich hatte keine Ahnung, daß er gleichzeitig mit mir in Paris sein würde. In diesen ersten Sekunden der fassungslosen Entdeckerfreude nahm ich an, O. habe irgendwie von meinem Kommen erfahren und im Hotel angerufen, daß man mir eine Nachricht hinterlassen solle. Der Zettel war von irgendwem in mein Zimmer gebracht, aber so nachlässig auf die Schreibtischkante gelegt worden, daß er auf den Fußboden gesegelt war. Oder aber diese Person (das Zimmermädchen?) hatte ihn versehentlich heruntergewischt, als sie das Zimmer für meine Ankunft zurechtmachte. So oder so, letztlich war keine dieser Erklärungen sonderlich plausibel. Die Lage des Zettels sprach dagegen, und falls ihn nicht jemand, nachdem er zu Boden gefallen war, mit dem Fuß noch weiter nach hinten geschoben hatte, konnte er unmöglich so weit unter den Schreibtisch geraten sein. Ich fing schon an, meine Hypothese zu überdenken, als mir noch etwas Bedeutsameres auffiel. O.s Name stand außen auf diesem Zettel. Wäredie Nachricht für mich bestimmt gewesen, hätte dort aber mein Name stehen müssen. Auf die Außenseite gehörte der Name des Empfängers, nicht der des Absenders, und wenn mein Name dort nicht stand, war er auch nicht woanders auf dem Zettel zu finden. Ich faltete das Papier auseinander und las. Der Absender war mir vollkommen unbekannt – aber der Empfänger war tatsächlich O.   Ich lief nach unten und fragte an der Rezeption, ob O. noch da sei. Das war natürlich eine dumme Frage, aber ich stellte sie trotzdem. Wie konnte O. noch dasein, wenn er nicht mehr in seinem Zimmer war? Jetzt war ich ja da, und O.s Zimmer war nicht mehr seins, sondern meins. Ich fragte, wann er abgereist sei. Vor einer Stunde, lautete die Antwort. Vor einer Stunde hatte ich in einem Taxi in den Pariser Außenbezirken im Stau gestanden. Wäre ich zur vorgesehenen Zeit zum Hotel gekommen, hätte ich O. noch getroffen, als er es gerade verließ.

«It don’t mean a thing»
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    Wir haben ihn gelegentlich im Carlyle Hotel getroffen. Ihn einen Freund zu nennen wäre übertrieben, aber ein guter Bekannter war F. schon, und meine Frau und ich freuten uns jedesmal, wenn er anrief und sagte, er komme demnächst in die Stadt. F. war nicht nur ein mutiger und sehr produktiver französischer Dichter, sondern auch einer der weltweit führenden Fachleute zum Thema Henri Matisse. Und dank seines guten Rufs erhielt er von einem bedeutenden Museum in Frankreich den Auftrag, eine große Ausstellung von Matisse’ Werken zu organisieren. F. war kein professioneller Kustos, aber er stürzte sich mit sehr viel Energie und Geschick in diese Aufgabe. Es ging darum, sämtliche Gemälde von Matisse aus einer bestimmten Periode von fünf Jahren in der Mitte seiner Karriere zusammenzutragen. Das waren einige Dutzend Bilder, und da sie in
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