Das rote Band

war.
    „… sodass meine Schwester ihre Reise mit Prinz Kaylan ins Südland zu ihrem großen Bedauern leider abbrechen musste, um sich in den nächsten Wochen dringlichen familiären Angelegenheiten zu widmen.“
    Getuschel folgte Jakes Erklärung, und Joanna bemühte sich, einen freundlichen Gesichtsausdruck beizubehalten, auch wenn ihr nicht danach zumute war. Als sich das Gerede über die unerwartete Rückkehr Lady Joannas gelegt hatte, zeigte ihr Bruder mit der Hand in Galads Richtung. „Erfreulicher ist die Mitteilung, dass Lord Lionsbridge nach Ende seiner diplomatischen Mission seine Lehrtätigkeit in Greystone wieder aufnimmt.“ Jake lächelte ihm zu. „Willkommen zurück.“
    Joanna zuckte zusammen. Hoffentlich hatte niemand außer ihr das Strahlen in Jakes Augen bei seinen letzten Worten bemerkt! Die Tatsache, dass ihr Bruder und Galad weit mehr waren als nur beste Freunde, war für sie gewöhnungsbedürftig – und beängstigend. Sie war, was die Beziehung der beiden betraf, jahrelang blind gewesen. Was, wenn andere es nicht waren? Und ahnte niemand im Saal, dass Jakes Behauptung, Galad sei auf einer diplomatischen Reise gewesen, nur eine Lüge war, um die lange Abwesenheit des jungen Lehrers zu rechtfertigen? Galad hatte im letzten Herbst Greystone nach einem Streit mit Jake überstürzt verlassen und sich in Lionsbridge versteckt. Ian hatte ihn Anfang des Jahres dort ausfindig gemacht und dadurch die Versöhnung zwischen Jake und Galad ermöglicht. Erst heute war Galad nach Greystone zurückgekehrt, nachdem Jake ihm das Versprechen gegeben hatte, niemals zu heiraten. Joanna gönnte ihrem Bruder und Galad ihre Liebe, andererseits stellte sie ein großes Wagnis dar, denn Verbindungen zwischen Männern wurden gesellschaftlich nicht geduldet, ganz im Gegenteil.
    Um sich abzulenken, beobachtete Joanna die Mitglieder der Prüfungskommission, die sich nun von ihren Plätzen erhoben und in die Mitte des Saales gingen, um dort den knapp dreißig Studentinnen und Studenten ihre Urkunden zu überreichen. Die jungen Männer hatten in ihrem Jahr in der Akademie ein enormes Wissen erworben, das sie jetzt auf ihrem Landsitz, in den Bürgerstädten oder für politische und militärische Karrieren am Königshof einsetzen konnten. Die jungen Damen hingegen machte der Besuch der Akademie zu begehrten Heiratskandidatinnen, da sie nun eine hohe Bildung besaßen und ihren zukünftigen Ehemann bei seinen Vorhaben unterstützen konnten, vor allem, wenn es um den Aufbau eines Haushalts in den Bürgerstädten ging. Zwar wurde die Unterrichtung von Frauen in der Akademie immer noch von vielen als nicht schicklich erachtet, doch nahm die Zahl der Studentinnen von Jahr zu Jahr zu.
    Nach der letzten Urkundenvergabe brandete der Applaus der stolzen Angehörigen auf, denn ein Abschluss der Akademie wirkte sich nicht nur für den Absolventen gewinnbringend aus, sondern auch für seine ganze Familie. Anschließend nahmen die jungen Männer und Frauen wieder an den Tischen Platz, und Jake eröffnete das Festmahl.
    Kurze Zeit später saß Joanna vor ihrem Teller und schob das Fleisch mit ihrem Messer von einer Seite zur anderen. Neben ihrer Aufregung war es vor allem die Auseinandersetzung zwischen Ian und Ronen in der Bibliothek, die ihr nicht aus dem Kopf ging. Ronen war nicht erfreut gewesen bei dem Gedanken an die Bekanntgabe von Ians Ehrlosigkeit und, wenn sie es sich recht überlegte, auch nicht über die Nachricht, dass Ian und sie heiraten würden. Ob Ronen etwas gegen ihre Hochzeit einzuwenden hatte? Joanna legte ihr Besteckt auf den Teller und ein Dienstmädchen räumte ihn ab. Egal was dahintersteckte, sie hoffte sehr, dass die beiden Brüder ihre Unstimmigkeiten schnell bereinigen würden!
    Jake erhob sich, und die Absolventen, Lehrer und Gäste folgten seinem Beispiel. Zügig trugen die Diener die Tische, Stühle und Bänke an die Wand, und in der Mitte des Saales entstand eine freie Fläche. Jake bot Joanna seinen Arm und führte sie vor die Empore, auf der die Musiker saßen. Galad und Adamo folgten ihnen und stellten sich neben sie. Die Gäste versammelten sich vor ihnen, und Joanna entdeckte, dass Ian in der ersten Reihe stand, flankiert von Bennett und Ronen. Er wirkte gefasst und zwinkerte ihr zu, doch es half nichts. Ihre Knie waren weich, und sie fürchtete sich vor dem, was ihnen nun bevorstand.
    „Verehrte Gäste, liebe Freunde!“ Jake wartete einen Augenblick, bis Ruhe eintrat. „Bevor der Tanz beginnt, muss