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Das Pubertier

Das Pubertier

Titel: Das Pubertier
Autoren: Jan Weiler
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«Natürlich, du Depp!» Sie kann aber genauso gut bedeuten: «Natürlich nicht, du Depp.» Also fragte ich weiter: «Mit Zunge?» Und darauf sie: «Papa, Mensch. Wir sind doch keine Perverslinge!»
    Und ich dachte: Alles gut, kein Grund zur Panik.

Coole Kids kriegen Kahns Kiefer
    Wer fährt so spät noch durch Nacht und Wind? Ich bin’s, mit der Spange von meinem Kind. Seit einiger Zeit bin ich regelmäßig abends mit dem Auto unterwegs, um meiner Tochter die Zahnspange zu bringen, wenn sie woanders übernachtet. Ich bin ein Spangenbote, ein Knecht des Kieferorthopäden, ein Dentalbüttel. Carla vergisst gerne, ihre Spange vor dem Insbettgehen einzusetzen, und ganz besonders gerne vergisst sie das, wenn sie nicht zu Hause übernachtet. Wie eben an jenem Freitag, als Carla beschlossen hatte, bei Moritz zu übernachten. Es gab da noch nichts, was man unbedingt kontrollieren musste, abgesehen von der Zahnspange.
    Carla soll sie nachts tragen, ungefähr seit einem Vierteljahr und auf Anordnung eines autoritären Kieferorthopäden, der uns darauf hinwies, dass nur auf diese Weise hässliche Folgeschäden vermieden werden könnten. Diese sind übrigens vor allem sozialer Natur. Mit schiefen Zähnen kann heute niemand mehr die Welt erobern. Ich bedauerte mein Kind, schließlich gibt es Schöneres, als womöglich jahrelang mit einem halben Pfund Draht im Mund herumzulaufen, aber unser Pubertier brach keineswegs in Heulkrämpfe aus, sondern machte die Beckerfaust und rief: «Ja!»

    Ich verstand dann, dass ihr diese Spange als Symbol für das Fortkommen innerhalb der Adoleszenz höchst willkommen war. Ähnlich wie der erste Pickel, den sie im Mai freudig begrüßt hatte. Wer einen gewissen Zahnschiefstand oder Hautunreinheiten aufweist, der hat es im Leben bereits zu etwas gebracht, so in etwa war ihr Jubel zu verstehen. Ich fand das rührend und erinnerte mich an meine erste Nassrasur mit vierzehn Jahren. Zwar hatte ich damals noch keinen Bartwuchs, hoffte aber, dass dieser einsetzte, sobald ich mich rasierte.
    Als die Spange dann in unser Haus kam, musste Carla sie vorführen. Sie setzte sie mühsam ein, und das Ding polsterte subkutan ihren Mundbereich auf. Um den Kiefer herum sah sie ein bisschen aus wie Oliver Kahn. Ich musste lachen. Sie sagte: «Hörauffoblöfukichn.» Ich musste noch mehr lachen, tut mir leid. Darauf entfernte sie das gute Stück und rief sabbernd, dass es kein Vergnügen sei, eine Prothese tragen zu müssen, und dass sie ja wohl Unterstützung von ihrem eigenen Vater erwarten könne. Und damit hatte sie recht, auch wenn eine Zahnspange keine Prothese ist.
    Carlas Zahnspange hat dann unser Leben verändert, plötzlich ging es nur noch um diesen teuren Maulverhau. Ich habe meine Tochter im Verdacht, dass sie das Teil absichtlich verbiegt, damit es weh tut und sie es nicht tragen muss. Sie bestreitet dies, aber die anfängliche Begeisterung ist schnell einer nüchternen Pragmatik gewichen.
    Es gibt überhaupt nur noch einen Bewohner unseres Hauses, der wirklich auf die Spange steht: unseren Hund. Hunde lieben Zahnspangen, wobei sie diese nicht einsetzen, um ihr Gebiss zu regulieren, sondern sie umstandslos zerbeißen, worauf eine neue Zahnspange angefertigt werden muss. Wahrscheinlich ist der Hund das Wappentier des kieferorthopädischen Berufsverbandes. Dessen Mitglieder haben viel zu tun.
    Vor einiger Zeit fand eine größere Übernachtungsparty bei uns zu Hause statt. Gegen 22 : 30  Uhr legten gleich fünf von sieben anwesenden Mädchen synchron ihr Geschirr an, um danach noch zwei Stunden in einer feuchten Geheimsprache miteinander zu konferieren. Immerhin hatten ausnahmsweise alle ihre Spange dabei, was sonst nie der Fall ist. Normalerweise klingelt es gegen 23 : 30  Uhr an der Tür, und eine mehr oder weniger absichtlich vergessene Regulierungsapparatur wird angeliefert.
    Letzten Freitag war ich jedenfalls mal wieder unterwegs. Ich parkte, nahm die Dose vom Beifahrersitz und klingelte. Moritz’ Vater öffnete die Tür, ich streckte ihm den Frachtbehälter entgegen. Er nahm ihn, nickte wissend, ich nickte zurück, dann drehte ich mich um und ging. Väter von gleichaltrigen Pubertieren verstehen sich ohne Worte.
    Bevor sich die Tür schloss, hörte ich, wie meine Tochter rief: «Boah, mein Vater ist so krass uncool.»
    Uncool, ja, aber mit geraden Zähnen.

Ein Traum von einem Vater
    Schul- und Jugendpsychologen weisen immer wieder darauf hin, dass es in der Erziehung junger Menschen vor allem
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