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Das Prachtstück

Das Prachtstück

Titel: Das Prachtstück
Autoren: Brigitte Riebe
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übergegangen war. Ungefähr hier würde ihr Himmelbett stehen, in dem sie seit ihrer Hochzeitsnacht schlief. Nein, ein bisschen weiter links.
    Genau so! Vis-à-vis vom Fenster. Dann hatte sie selbst im Liegen einen wunderschönen Blick über Münchens Dächer.
    Natürlich begann sie schon im nächsten Moment doch wieder zu weinen, heftig sogar, obwohl seit dem schrecklichen Unfall mehr als fünf Jahre vergangen waren. Seitdem hatte sie nie wieder ein Motorrad angefasst, geschweige denn gestartet. Manchmal wurde ihr schon übel, wenn sie die schnellen, tödlichen Maschinen nur ansehen musste, die ihr Micha für immer entrissen hatten.
    Deshalb konnte sie nicht die Garage betreten, in der ihre Schwiegereltern seine auffrisierte Harley schon fast wie eine Reliquie hüteten.
    Deshalb war sie vor zwei Wochen beinahe Hals über Kopf aus Bad Homburg nach München geflohen, fort aus dem liebevoll erdrückenden Dunstkreis von Foto-Becker und allem, was sie an diesen Abschnitt ihres Lebens erinnerte.
    Beinahe allem.
    Denn das Wichtigste, das, was sie auf immer und ewig mit Michael Becker verband, hörte bei guter Laune auf den Namen Felicitas Marie Viola, war letzte Woche fünf geworden und trug unter einem lockigen Karottenschopf Lindas staunende helle Augen und sein strahlendes Lächeln. Wie gern hätte sie ihm dieses prachtvolle Ergebnis ihrer Liebe in die Arme gelegt! Aber als ihre Kleine mit einem empörten Schrei das Licht dieser Welt erblickt hatte, war Micha schon mehr als vier Monate tot.
    Es tat noch immer weh – so fürchterlich weh.
    Und keine ihrer Gegenmaßnahmen änderte etwas daran: weder der Schutzwall aus Traurigkeit und Desinteresse, den sie um sich errichtet, noch die selbst gewählte Einsamkeit, in die sie sich wie ein verwundetes Tier zurückgezogen hatte. Micha fehlte ihr. Jeden Morgen, wenn sie die Augen aufschlug, jeden Abend, wenn sie sich schlafen legte, betrogen um ein Glück, dessen Reife sie niemals hatte genießen dürfen.
    Draußen schrie ein kleines Kind nach seiner Mutter. Linda schreckte aus ihren Erinnerungen hoch und lauschte. Es war so still nebenan.
    Verdächtig still.
    Â»Feli?«, rief sie laut. »Wo steckt du denn? Was machst du gerade?«
    Keine Antwort.
    Alarmiert stand sie auf, ließ routinemäßig das Foto zurück in ihre Tasche gleiten und ging nach drüben. Verdutzt blieb sie auf der Schwelle stehen.
    Â»Ach, Feli, nein!«
    Das Malbuch lag vernachlässigt in einer Ecke. Was vorhin noch ein makellos gebohnertes, offenbar frisch abgezogenes Parkett gewesen war, war nun fast vollflächig mit dicken blauen, grünen und violetten Kringeln und einigen ungelenken Figuren bemalt. Wellen und Delfine, wie ihr geschultes Mutterauge sofort erkannte. Unter dem Fenster saß ihre Tochter, glühend vor Eifer, mit rosigen, erhitzten Wangen, Hände und Beine ebenfalls in allen Regenbogenfarben beschmiert.
    Â»Schön, Mami, nicht? Das wird unser Aquariumzimmer. Mit ganz großen, dicken Fischen. Die fressen jeden, der uns was tun will. Und wenn es uns nicht mehr gefällt, malen wir einfach etwas Neues drüber. Urwald oder so. Gell, das machen wir?«
    Felis Nase lief wie so oft in letzter Zeit, und sie strahlte, beinahe wie es Micha getan hatte, wenn er stundenlang mit durchaus unterschiedlichem Erfolg an seiner Maschine herumbastelte. Lindas Herz weitete sich in einer jähen Aufwallung von Mutterliebe.
    In diesem Augenblick wurde die Wohnungstür geöffnet. Der Makler schien mittlerweile doch ungeduldig geworden zu sein.
    Â»Was zum Teufel soll das denn …« Er erstarrte, als er die Bescherung erblickte.
    Â»Das? Nur mein Feuerköpfchen Feli«, sagte Linda schnell, »im ungebremsten Schaffensrausch, wie Sie ja selber sehen. Wir nehmen die Wohnung übrigens. Machen Sie sich also bitte keine unnötigen Gedanken. Wegen des Bodens, meine ich. Geht schon klar.«
    Er schwieg noch immer.
    Â»Vier, fünf Stunden intensives Schrubben, also kaum der Rede wert für die geübte Hausfrau, und das Ganze sieht besser aus als neu. Glauben Sie mir! Sie haben keine Kinder, nehme ich an?«
    Â»Nein. Leider.« Wenigstens schien er die Sprache wiedergefunden zu habe, wenngleich er bedeutend weniger forsch klang als zuvor. »Beziehungsweise Gott sei Dank.« Er schien echt verwirrt. »Ich meine, noch nicht.«
    Â»Das kann ja noch werden.« Linda merkte
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