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Das philosophische Denken im Mittelalter

Das philosophische Denken im Mittelalter

Titel: Das philosophische Denken im Mittelalter
Autoren: Kurt Flasch
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Beurteilungskriterien. So entspringt das Interesse an der historisch-gesellschaftlichen Funktion des mittelalterlichen Denkens einem gegenwärtigen Problembewusstsein. Dies gilt auch, wenn wir die Rolle der Sprache oder die philosophische Beurteilung der Logik als Problem thematisieren. Ich möchte an Elementen der mittelalterlichen Philosophie zeigen, dass sie das Wissen einer Welt war, in der es Kaiser und Könige, Feudalherren und Bauern, weltbeherrschende Päpste und religiöse Bettelbewegungen gab. Dies heißt natürlich nicht, das philosophische Denken habe diese Welt abgebildet.
    »Hierarchie« war ein betont mittelalterliches, explizit metaphysisches Konzept. Dies lässt sich seit der Krise der Hierarchievorstellung konkreter beschreiben als vorher. Das Bewusstsein, philosophische Bezugspunkte in der Gegenwart zu haben, verhindert nicht notwendigerweise, sondern befördert möglicherweise die historische Untersuchung. Das Ziel solcher Recherchen ist die philosophische Explikation der historischen Erfahrung des Abstands.
    4. Das Wort »Mittelalter« war ein polemischer Einfall eines Humanisten. Es sollte eine fremdartige Zwischenzeit von etwa 1000 Jahren bezeichnen. Das Wort stellt künstlich eine Einheit her, die nie existiert hat. Man vergegenwärtige sich, dass dazu die »Weisheit« der jüdischen Gelehrten des 11. Jahrhunderts ebenso gehört wie die philosophischen Überzeugungen des Erasmus von Rotterdam. Zwischen der für die Ausbildung der königlichen Beamten errichteten Universität Neapel und dem Generalstudium der Dominikaner in Köln bestanden Unterschiede, die in unserer Rückschau zu rasch zusammenfließen. Zwar war die Lebensdeutung der Menschen zwischen 500 und 1500 in Europa relativ einheitlicher als im 20. Jahrhundert. Aber die Erfahrung der intellektuellen Zerrissenheit der Gegenwart erzeugte im 19. und 20. Jahrhundert eine harmonisierende Tendenz, die das Denken des Mittelalters ungebührlich vereinheitlichte. Gegenüber dieser Uniformierungstendenz gilt es geschichtlich zu verfahren, d. h. die Vielfalt zu belassen und die Mannigfaltigkeit innerhalb der gemeinsamen Strukturen zu sehen.
    Die Erforschung eines so großen Zeitraums wie des Mittelalters erfordert einen ständigen Wechsel der Sehweise. Es ist wie bei der Erkundung einer großen alten Stadt, etwa Venedigs. Aus der Ferne erscheint sie einem einheitlichen Stilwillen entsprungen. Prägnant hebt sie sich von anderen italienischen Städten ab; ihre Charakterzüge sind unverwechselbar. Begibt man sich aber in das Gewirr der Straßen, Häuser und Kanäle, stößt man auf die Unterschiede der Quartiere, der sozialen Gruppen und auf die nicht reduzierbare Vielheit der einzelnen Menschen. So zeigt auch die Philosophie des Mittelalters für den entfernteren Betrachter einheitliche Charaktere, die sich bei näherer Betrachtung auflösen und die dennoch keine reine Fata Morgana sind, wenn auch an ihnen nostalgische Bedürfnisse nachweisbar mitzeichnen. Die Erkenntnis der Philosophie des Mittelalters beginnt dann, wenn man die distanzierte Betrachtung aus dem historischen Abstand verbindet mit der Versenkung in ausgewählte exemplarische Einzelheiten. Sie muss die allgemeinen Lebensbedingungen, die umfassenden geschichtlichen Grundlagen, die markantesten Stadien der Entwicklung sowie die wichtigsten Resultate der Philosophie des Mittelalters ermitteln. Sie muss Einsicht verschaffen in die Lebensfunktion der mittelalterlichen Theorien. Sie muss die Entstehung der modernen Welt aus ihrem spätmittelalterlichen Ursprung vor Augen stellen. Dies möchte ich versuchen, ohne in generalisierende Schemata zu fallen. Dabei beziehe ich das Wort »Mittelalter« geographisch auf den lateinischen Westen. Aber dieses Gebiet verdankte der jüdischen und der islamischen Welt Wesentliches, ebenso der Beziehung zu Byzanz. Eine prestigereiche und auch von mir dankbar benutzte Bibliotheksgeschichte schiebt die arabische Zivilisation ab mit der Erklärung: »Die islamische Welt ist etwas Neues und dem Abendlande ihrem Wesen nach fremd.« 2
    Da ich einem so unbedachten Gebrauch des Wortes »Wesen« und der abendländlerischen Abwehr des arabischen Einflusses nicht zustimmen konnte, musste ich in Kauf nehmen, auch von der arabischen Welt zu sprechen, wenn auch, zugegeben, aus zweiter Hand schöpfend.
    5. Historische Erkenntnis hängt immer auch ab von dem Betrachter, der sie vollzieht. Daher ist es nützlich, wenn der Verfasser in der Einleitung seinen
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