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Das philosophische Denken im Mittelalter

Das philosophische Denken im Mittelalter

Titel: Das philosophische Denken im Mittelalter
Autoren: Kurt Flasch
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einer merowingischen Fibel, der Architektur von St. Michael in Hildesheim und Masaccios Fresken von 1422 liegen jeweils Welten. Solcherart Unterschiede wollte ich für die intellektuelle Entwicklung herausarbeiten. Keine spätere Stufe galt mir als das normative Ziel einer früheren. Es ging mir darum, Entwicklung sichtbar zu machen. Aber ich verstehe »Entwicklung« nicht länger als pflanzenartiges Wachstum auf eine ideale Gestalt hin, sondern als geschichtlichen Prozess, in dem offene Situationen in Konflikten entschieden werden und in dem die Vielfalt individueller Sichtweisen bis zuletzt ihr Recht behauptet.
    Die Metaphern von »Hoch«- und »Spät«-Scholastik habe ich mir daher versagt. Von »Blüte« und »Verfall« ist nicht die Rede. Dagegen wollte ich zeigen: Nach 1050 kam es zu einer relativ kontinuierlichen Entwicklung; sie erreichte an bestimmten historischen Knotenpunkten eine besondere Dichte, so zwischen 1050 und 1130 und wiederum zwischen 1277 und 1350. Dieser letzte Zeitabschnitt, weit davon entfernt, eine Epoche des bloßen Zerfalls zu sein, erweist sich als der Ursprung entscheidender Alternativen des frühneuzeitlichen Denkens. Da es bei der Geschichte des mittelalterlichen Denkens auch um die Genesis der modernen Welt geht, galt meine besondere Aufmerksamkeit dem 14. und 15. Jahrhundert.
    7. Das Wort »Mittelalter« ist eine Konvention. Es bezeichnet ein Arbeitsfeld, mehr schlecht als recht. Zu seinen Nachteilen zählt, dass selbst manche Fachleute es als einen Begriff behandeln, aus dem sich mangels empirisch-historischer Daten Erkenntnisse gewinnen lassen. Ich lade den Leser ein, bei sich selbst die Probe zu machen, ob er zu diesem Fehler neigt. Er stelle sich vor, er finde auf meinem Arbeitstisch ein mittelalterliches Buch über den Regenbogen. Nehmen wir an, von diesem Traktat seien etwa 20 Manuskriptseiten verlorengegangen. Neigt er zu der Annahme, in den verlorenen Partien habe der Verfasser – ein Mönch der Zeit um 1300 – vom Regenbogen als dem Zeichen der Versöhnung zwischen Gott und den Menschen gesprochen? Wenn ja, ist er in die Falle gegangen, die das Wort »Mittelalter« ihm stellt. Denn der Text ist vollständig erhalten, er stammt tatsächlich aus der Zeit kurz nach 1300 und spricht mit keinem Satz von der religiös-symbolischen Deutung des Regenbogens; er behandelt das Problem seiner Entstehung streng optisch. Er analysiert das Phänomen, ausgehend von der Bewegung des Lichtstrahls im einzelnen Wassertropfen. Dieses unterkühlte Absehen von Offenbarung, Seelenheil und Symbolik gab es im Mittelalter de facto, aber es passt nicht recht in die Phantasiebilder, die das Wort »mittelalterlich« suggeriert.
    Ich möchte ein zweites Beispiel bringen: Die Pestkatastrophe des Jahres 1348/49 bedeutete einen ungeheuren Einschnitt im mittelalterlichen Leben. Kann man sich vorstellen, dass ein mittelalterlicher Autor, ein Kleriker zumal, diese Schreckenszeit bis ins einzelne schildert, aber dabei vergisst, den christlichen Glauben als Trost im Leiden auch nur zu nennen? Kann man sich vorstellen, dass er vergisst zu erwähnen, dass dieses Leiden auch von Gott kommt? Viele Menschen, selbst brave Fachleute, verneinen die Frage. Aber auch sie sind in die Mittelalter-Falle gegangen. Denn Boccaccio schildert um 1350 die Pest bis in alle grausamen Einzelheiten; er erwähnt auch religiöse Zeremonien und Gebete, aber er erwähnt sie als Leerlauf, der so wenig zu etwas führte wie die hilflosen Aktionen der Ärzte. Boccaccio versichert gar, er wisse nicht, ob die Pest dem Zorn Gottes oder der Ungunst der Sterne entsprungen sei; er erwähnt die astrologische Deutung gleichberechtigt neben der theologischen.
    Die radikal-optische Deutung des Regenbogens bei Dietrich von Freiberg und die theologisch neutrale Schilderung der größten Katastrophe des 14. Jahrhunderts warnen davor, aus dem Wort »mittelalterlich« irgendetwas zu folgern. Die Sache wird auch dann nicht besser, wenn man sagt, diese methodische Beschränkung bei Dietrich und die skeptische Bemerkung Boccaccios seien »moderne« Züge in mittelalterlichen Schriften. Denn das Wort »modern«, samt den Substantiven »die Moderne«, »Post«- und »Prämoderne«, hat denselben Behelfscharakter wie die Vokabel »mittelalterlich«: Es dient zur vorläufigen Markierung, es erspart fürs erste umständliche Chronologien, aber es bietet keine sachhaltige Erkenntnis. Martin Luther, bekanntlich ein Schriftsteller des 16. Jahrhunderts, war
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