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Das philosophische Denken im Mittelalter

Das philosophische Denken im Mittelalter

Titel: Das philosophische Denken im Mittelalter
Autoren: Kurt Flasch
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übersah Baeumker, als er die Ausschließung des tatsächlichen mittelalterlichen Lebens zum Programm erhob für die geschichtliche Darstellung der mittelalterlichen Philosophie.
    Er hätte, meine ich, unterscheiden sollen zwischen einer philosophiehistorischen Spezialuntersuchung und einer historischen Gesamtdarstellung. Wenn ich untersuche, was Siger von Brabant zur aristotelischen Definition der Zeit gesagt hat, dann klammere auch ich sozial- und kulturgeschichtliche Hintergründe methodisch aus. Will ich hingegen – wie im vorliegenden Buch – die Geschichte des mittelalterlichen Denkens schreiben, muss vom Ottonischen Imperium, vom Programm päpstlicher Weltherrschaft, aber auch von Landwirtschaft und Städtebildung die Rede sein, nicht um von ihnen irgendetwas abzuleiten , sondern um bestehende Zusammenhänge zu zeigen. Für die Geschichtsschreibung gelten andere Regeln als für die Detailstudie.
    Andererseits: Wenn Individuen, nicht Ideen, der Ausgangspunkt geschichtlichen Wissens sind, so ist das Verhältnis von Denkinhalt und Individualität doch problematisch bis zur Paradoxie. Wenn gedacht wird, gehört das Gedachte nicht nur einem Individuum an. Ferner agieren und theoretisieren Individuen unter geschichtlichen Rahmenbedingungen. Von diesen gilt, was Hermes Trismegistus von den Sternen sagte: Sie drängen, aber sie zwingen nicht. Sie bilden unvermeidliche Dispositionen; sie ermöglichen und begrenzen das Sagbare, aber sie determinieren nichts. Von ihnen, nicht von »Leben und Werk« der Individuen, muss die Darstellung der mittelalterlichen Philosophie ausgehen. Dann aber vertieft sie sich in individuelle Konstellationen, einschließlich der Biographien, um schließlich konkret der Bewegung individueller Denker zu Ansprüchen von höchster Allgemeinheit mitdenkend zu folgen. Wer hier von Determinismus, Soziologismus oder Reduktionismus spricht, beweist nur, dass er nicht imstande ist, Wechselwirkung zu denken, da ihm alles entweder Substanz oder Akzidens, entweder Basis oder Überbau ist. Diese klötzchenhaften Wirklichkeitsauffassungen verfehlten das geschichtliche Leben, sowohl in ihrer schularistotelischen wie in ihrer vulgärmarxistischen Form. Beide Schemata behinderten das historische Denken und waren theoretisch unhaltbar.
    3. Es geht nicht darum, die Philosophie des Mittelalters in ihrem sachlichen Gehalt zu rechtfertigen, sondern ihren sachlichen Gehalt im geschichtlichen Kontext zu sehen und damit unseren Begriff des »sachlichen Gehalts« und der »Rechtfertigung« zu problematisieren. Es ist unbeholfene Apologetik, von einem mittelalterlichen Theorem beweisen zu wollen, es sei »aktuell« und habe »uns heute noch etwas zu sagen«. So mögen moderne Prediger reden, nicht Philosophen. Daher verschwende ich keine Energie darauf, im Gewesenen »bleibende Kerne« zu ermitteln oder von mittelalterlichen Doktrinen zu behaupten, sie seien späteren Systembildungen gleichwertig oder gar überlegen. Dies hieße, dem Jahrmarkt der Meinungen zu viel Respekt zu erweisen. Damit verliert die historische Erforschung der mittelalterlichen Philosophie aber keineswegs ihre inhaltliche Relevanz. Nur suche ich diese Relevanz nicht metahistorisch in direkten Kontinuitätselementen, sondern in der Analyse der Entstehungs-, Erhaltungs- und Untergangsbedingungen der Theoriebildungen einer Epoche. Das Studium dieser Verflechtungen einer geschichtlichen Welt mit den höchsten Ansprüchen menschlicher Theorie kann, denke ich, nicht ohne Rückwirkung auf unseren Begriff von Theorie überhaupt bleiben. Die mittelalterliche Philosophie war, einer antiken Einteilung folgend, primär Logik, Physik und Ethik, aber sie war auch in diesen Disziplinen Metaphysik. Ihre historische Untersuchung macht die Zusammenhänge dieser Metaphysik mit den Formen menschlicher Herrschaft über die Natur und über Menschen sichtbar. Sie illustriert somit konkret das Konzept dieser Metaphysik, die für die neuzeitliche Metaphysik und Metaphysikkritik grundlegend wurde. Nicht indem wir die Denkoperationen der mittelalterlichen Metaphysiker in der Gegenwart fortzusetzen versuchen, sondern indem wir deren Fortgang historisierend unterbrechen, stellen wir uns der sachlichen Relevanz ihrer Argumente.
    Auch die quellennahe, selbst die »positivistisch« gehaltene Untersuchung hat für die Relevanz kein anderes Kriterium als ein gegenwärtiges. Auch wenn wir direktes Aktualisieren vermeiden wollen, hängen wir ab von gegenwärtigen
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