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Das philosophische Denken im Mittelalter

Das philosophische Denken im Mittelalter

Titel: Das philosophische Denken im Mittelalter
Autoren: Kurt Flasch
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die Bücher der heidnisch-griechischen, der arabischen oder auch der byzantinischen Gelehrten denen des christlichen Westens vorzuziehen seien. Konnte es sein, dass die heidnischen und die islamischen Denker der Wahrheit nähergekommen waren als die Väter der Kirche? So blieben Debatten über das abstrakt klingende Thema des Ursprungs der menschlichen Erkenntnis keine akademisch-erkenntnistheoretischen Diskussionen. Als seit dem 12. Jahrhundert die Autorität der sichtbaren Kirche und ihre Forderung nach Gehorsam und Zehntzahlung mehr und mehr in Zweifel gezogen wurden, verteidigte sie die sichtbare Gnadenvermittlung mit dem Argument, alle menschliche Erkenntnis fange mit den Sinnen an.
    Die »scholastisch« und »überzeitlich« anmutende Frage hatte also ihren präzisen »Sitz im Leben«. Ihn gilt es wieder zu sehen. Denn nicht »Ideen« oder »Probleme« standen am Anfang, sondern Menschen, die für die Konflikte ihrer Zeit Antworten suchten. Oft haben gesellschaftliche und politische Gruppen sich erst konsolidiert, indem sie sich theoretische Positionen als Zugehörigkeitsmerkmale schufen. Das gilt insbesondere für die religiösen Orden des Spätmittelalters; sie suchten ihre Identität nach Innen und ihre Schlagkraft nach Außen zu sichern, indem sie eine Hausphilosophie vorschrieben. In diesen Fällen ist es skurril, wenn moderne Philosophiehistoriker nach dem rein theoretischen Gehalt dieser Positionen fahnden.
    Dies ist oft genug vorgekommen. Philosophen (vor allem deutsche) haben zu lange »Ideen« hypostasiert und »Probleme« zu selbständigen Trägern der Geschichte erhoben. Der vorliegende Text ist ein Versuch, sich von ihnen durch eine andere Forschungspraxis und Darstellungsweise zu distanzieren. Schlagworte wie »Nominalismus« oder »Realismus«, »Aristotelismus« oder »Platonismus« erfassen nicht das geschichtliche Leben der Philosophie im Mittelalter. Das Denken dieser Epoche bestand nicht primär im Ringen dieser Richtungen miteinander. Das Verstehen ihrer Werke besteht nicht darin, ihnen vorab bereitliegende Parteinamen als Etiketten aufzukleben. Ich möchte nicht darauf verzichten, einzelne Argumente als »platonisch« oder »aristotelisch« zu charakterisieren. Aber dies tue ich nur behelfsweise und in einleitender Analyse, um dann eine Philosophie als Antwort auf eine geschichtliche Situation zu lesen, als eine Antwort, die ihrerseits die Situation mitbestimmte und Strukturen für die Folgezeit schuf. Eine »Ableitung« von Philosophien aus gegebenen geschichtlichen Umständen scheint mir ebenso unmöglich wie ihre Abtrennung vom historischen Kontext. Diese Abtrennung hat in der deutschen geisteswissenschaftlichen Tradition, aber auch bei gelernten Neuscholastikern und im Restaurationsdenken der Nachkriegszeit einseitig dominiert. Es wäre reizvoll, die entgegengesetzte Perspektive stark zu machen. Doch damit wäre eine neue Einseitigkeit geschaffen, während es darum geht, mit der vulgäridealistischen Hochstilisierung des »mittelalterlichen Geisteslebens« zu brechen und zugleich die Rückwirkung des Denkens auf die Realverhältnisse des Mittelalters zu suchen. Mit dieser Interessenrichtung stehe ich nicht allein; ich verweise auf einen Meister des Faches wie R. W. Southern, Scholastic Humanism and the Unification of Europe , Bd. 1, Oxford 1995.
    2. Allerdings setzen heute immer noch viele Erforscher des mittelalterlichen Denkens die Abgetrenntheit der philosophischen Probleme stillschweigend voraus. Ein feinsinniger Gelehrter wie Clemens Baeumker hatte sie 1909 noch als eine Voraussetzung deklariert, die einer Begründung bedürfe; nur war seine Begründung falsch. Er schrieb: »Wenn wir von der mittelalterlichen Weltanschauung reden, so sehen wir hier ganz davon ab, zu untersuchen, wie das mittelalterliche Leben in seinen Gesinnungen und Motiven, in seinen Bestrebungen und Zuständen sich tatsächlich gestaltete. An dieser Stelle halten wir uns allein an das, was die führenden Geister, und zwar diese, soweit sie zugleich als philosophische Denker auftreten, als ideale Forderung aufstellen und durch ihre wissenschaftliche Spekulation zu begründen trachten« (Sperrungen im Original). 1
    Dass diese Vorentscheidung problematisch ist, liegt auf der Hand: Eine lebendige Philosophie erschöpft sich nicht darin, »wissenschaftliche Spekulation« oder »ideale Forderung« zu sein. Als »ideale Forderung« verliert sie das Salz, wenn sie sich nicht auf das tatsächliche Leben bezieht. Dies
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