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Das Perlenmaedchen

Das Perlenmaedchen

Titel: Das Perlenmaedchen
Autoren: Barbara Wood
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der Gefahr gerettet hast. Sollen wir dir weiterhin folgen?«
    Als Antwort stieß der große Vogel so tief nach unten, dass man sich ducken musste, schwang sich dann wieder in die Lüfte und hielt auf den Texcoco-See zu. Alle folgten ihm, an der Spitze Chac, Tonina, Ixchel und Martok.
    Den ganzen Vormittag über und noch bis zum späten Nachmittag schleppten sie sich mit schweren Schritten dahin, immer dem Adler nach, bis sie endlich weit genug von dem rauchenden Vulkan entfernt waren, um wieder frei atmen zu können und ihre Augen nicht mehr brannten. Als die Sonne bereits tief am westlichen Himmel stand, sahen sie, wie der Vogel hinaus auf den Texcoco-See flog und sich auf dem nackten Felsen inmitten des weiträumigen Sumpfgebiets niederließ.
    Vom Ufer aus verfolgten Tausende – Krieger und Pilger, Bauern aus der Gegend, deren Feldfrüchte unter einer Schicht Asche lagen, Dorfbewohner, deren Hütten eingestürzt waren – das Verhalten des Adlers, und jetzt sahen sie nicht nur, dass er eine Schlange im Schnabel hielt, sondern auf einem stachligen Feigenkaktus saß, der aus dem Felsen wuchs.
    Und an dem Kaktus prangte, von der Spätnachmittagssonne in leuchtendes Scharlach getaucht, eine rote Blume, deren Blütenblätter sich in Form eines Kelches nach oben reckten.
    »Das ist das Zeichen!«, rief Martok voller Verwunderung. Und zu Chac gewandt, sagte er: »Mein Sohn, dies ist das Zeichen, von dem ich sprach. Das Zeichen, das Huitzilopochtli uns versprochen hat.«
    »Ja, so ist es«, sagte Ixchel ehrfürchtig. Ihre Stimme zitterte. »Seit zehn Generationen ziehen wir in diesem Land umher, als Ausgestoßene, Unerwünschte, Heimatlose. Aber vor langer Zeit verhieß uns Gott Huitzilopochtli, dass uns einst ein Adler dorthin führen würde, wo wir zu Hause sind, und dass dieser Adler sich mit einer Schlange im Schnabel auf einem Kaktus niederlassen würde.«
    »Wie sollen wir dorthin gelangen?«, fragte Einauge. Der See war zwar flach – zum Schwimmen nicht tief genug –, aber für einen Mann von seiner Statur angesichts des Schlamms, der Wasserlachen und des Seegrases dennoch schwierig zu durchwaten.
    Während Chac das weite, mückenerfüllte Sumpfgebiet betrachtete, stellte er sich bereits die befestigten trockenen Pfade und aufgeschütteten Dämme vor, die sie anlegen würden, um ungehindert ans Ufer zu gelangen. Nach und nach würden Stein und Zement die Lehmpfade ersetzen, und die Insel würde ein Mittelpunkt für Handel und Verkehr werden.
    »Wir bilden Gruppen«, sagte er. »Wer kräftig genug ist, trägt die Schwachen und die Alten hinüber. Wir werden sofort ein Lager aufschlagen und diesen Felsen für uns in Anspruch nehmen, wir werden Wasservorräte in Häuten und Kalebassen anlegen. Wir heißen jeden willkommen, der sich uns anschließen möchte, und wir werden nicht zulassen, dass man uns vertreibt.«
    Ganz selbstverständlich hatte er die Leitung und Planung übernommen. Nun fühlte er sich als der Anführer, der er so lange nicht hatte sein wollen. Wie von Tonina ersehnt, sollte es im Tal von Anahuac nun allgemein gültige Gesetze geben, die für Sicherheit und Wohlstand sorgten – für alle hier. H’meens Gesetzesbuch, in einem Wald außerhalb der Stadt Uxmal begonnen, sollte als Grundlage dienen.
    Chac und Tonina waren die Ersten, die den mächtigen Felsblock erreichten, wo der Adler majestätisch auf dem Kaktus saß und sich durch die Ankunft so vieler Menschen nicht stören ließ, schon weil sich um den Felsblock herum ausreichend trockenes Land für sie ausbreitete. Als Ixchel, Einauge und H’meen eintrafen, die beiden Letzteren auf dem Rücken stämmiger Männer, entdeckte sie an dem Felsen einen kleinen herausragenden Vorsprung.
    Wie geschaffen für einen Altar. Hier sollten die ersten Gebete in der neuen Heimat gesprochen werden.
    Chac nahm den Felsblock und dessen trockenes Umfeld in Augenschein, das Sumpfgebiet, das sich daran anschloss sowie in der Ferne das Ufer, von dem weiterhin Menschen kamen. Der Popocatépetl hatte sich beruhigt, aber noch immer ballten sich Rauchschwaden am Himmel, sollten dies auch noch monatelang tun.
    Nichts mehr verband Chac mit Mayapán. Die Mitglieder der Vereinigung hatten nichts mit dem Tod seiner Frau zu schaffen. Paluma und ihr gemeinsamer Sohn erfreuten sich der Glückseligkeit des Dreizehnten Himmels. Auch seine Mutter war mittlerweile tot, und bei ihrem beispielhaften Leben war er sicher, dass sie unbesorgt das Gebet der Verfehlungen gesprochen hatte
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