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Das Perlenmaedchen

Das Perlenmaedchen

Titel: Das Perlenmaedchen
Autoren: Barbara Wood
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und deshalb ebenfalls zu den Göttern eingegangen war. Sein gesamter Besitz war gewiss längst dem König anheim gefallen. Und das Ballspiel ging ohne ihn weiter.
    Es machte ihm nichts aus. Mayapán war nur eine Vorbereitung auf den heutigen Tag gewesen. Er wollte keinen Gedanken mehr an jene Stadt verschwenden, auch nicht an Balám und an sein früheres Leben. Stattdessen überlegte er bereits, wie man den nackten Felsblock zu einer größeren Insel erweitern, Land gewinnen, schwimmende Gärten wie in Xochimilco anlegen und dann Holz und Stein heranschaffen könnte, um nach und nach eine veritable Stadt zu erbauen, mit Einrichtungen, in denen man Schreiben und Lesen lernte und der Wissenschaft, der Kunst und Religion diente.
    Tonina, die neben Chac stand, freute sich, wieder in der Nähe von Wasser zu sein. Ein Meer war dies hier zwar nicht, auch kein richtiger See, aber immerhin Wasser. Vielleicht ließe sich ja mit der Zeit, wenn sie mit Gärten das Land befestigten und Dämme zum Ufer hin bauten, das Wasser von den Bergen hier stauen, sodass ein See entstand, der diese Bezeichnung verdiente. Dann könnte sie auch wieder schwimmen.
    Als sie daran dachte, was sie hierher geführt hatte, begriff sie, warum Tapferer Adler auf der Terrasse des königlichen Gartens darauf bestanden hatte, dass sie zu Palumas Villa zurückkehrten, anstatt Mayapán unverzüglich den Rücken zu kehren: Er hatte sie davon abhalten wollen, nach Quatemalán zu gehen, und sie stattdessen zu Chac geführt. Um ihre Schicksale miteinander zu verknüpfen.
    Noch hatte sie Chac nicht gesagt, dass ein neues Leben in ihr wuchs – ein Kind, in dessen Adern das Blut von Cheveyos Volk floss, dem Volk der Sonne aus dem hohen Norden, aber auch das Blut der Mexica und das einer Ahnin, die vor dreihundert Jahren unter den schiffbrüchigen Nordmännern gelebt hatte, Fremdlingen, die versichert hatten, dass Quetzalcoatl wiederkehren würde.
    Tonina blickte auf die Menschen um sie herum und dann auf die rote Blume, die aus dem Kaktus spross. Die Menge fiel nicht wie befürchtet darüber her. Die vielen Hunderte näherten sich der Blüte vielmehr voller Ehrfurcht, in dem Bewusstsein, an einem Wunder teilzuhaben, an einem denkwürdigen Tag, an dem die Götter unsichtbar unter ihnen weilten, um ihre Magie zu entfalten und ihnen Glück zu bringen. Die Menschen spürten, dass die Götter sie für die großen Opfer segneten, die sie auf sich genommen hatten, um dieses neue Zuhause zu finden.
    Tonina richtete den Blick auf Tapferen Adler, der jetzt seine mächtigen Schwingen ausbreitete und sich vom Kaktus aus zum Himmel emporschraubte, wo er noch eine Weile kreiste. Tapferer Adler, betete Tonina zu ihm, erfülle mir noch eine letzte Bitte. Berichte meinen Delphinbrüdern, was mir widerfahren ist. Falls es die Perleninsel noch gibt, falls Guama und Huracan dem Unwetter entkommen sind, dann lass sie durch die Delphine erfahren, dass es mir gut geht und ich glücklich bin.
    Der Adler stieß einen Schrei aus und entschwand.
    Tonina griff langsam nach der Schnur, an der der kleine Beutel hing, den sie seit ihrem Aufbruch von der Perleninsel um den Hals trug.
    Ehe sie ins Kanu gestiegen war, das sie zum Festland bringen sollte, hatte sie eine Handvoll Sand in diesen kleinen Beutel rieseln lassen, in dem sich auch eine kleine Strandschnecke und ein Delphinzahn befanden, beides mächtige Talismane, die sie für immer mit den Inseln verbinden sollten. Jetzt öffnete sie den Beutel, dachte an Huracan und schüttete den Inhalt in das Wasser des Texcoco-Sees – Erinnerungen an die Perleninsel und an das die Insel umgebende Meer –, um sich stets an beiden Orten zu Hause zu fühlen.
    Einauge, der gerade ein Lagerfeuer anfachte, beobachtete gerührt Toninas Ritual. Dann schweifte sein Blick zu H’meen. Nach allem, was sie in der gerade überstandenen Katastrophe durchgemacht hatte, sah sie bemerkenswert gesund und kräftig aus. Hoffnung, so befand er, wirkt eindeutig wie ein verjüngendes Elixier.
    Er wusste um den geheimen Wunsch, den H’meen im Herzen barg. Obwohl sie kein Wort darüber verloren hatte, war ihm nicht entgangen, wie sehnsüchtig sie schaute, wann immer sie den kleinen Tenoch im Arm hielt. Heute Morgen waren Menschen gestorben, demnach musste es zwangsläufig Waisen geben. Wenn nicht, wollte er einem Bauern, der zu viele Mäuler zu stopfen hatte, nach alter Tradition das Jüngste abkaufen und H’meen das Kind übergeben, nach dem sie sich im Stillen sehnte.
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