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Das Paradies ist anderswo

Das Paradies ist anderswo

Titel: Das Paradies ist anderswo
Autoren: Mario Vargas Llosa
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Verrückter der Familie eingesperrt, dessen plötzliche Schreie die Kinder des Hauses erschreckten. Dich erschreckten sie nicht nur, sie faszinierten dich auch. Das Paradiesspiel! Du hattest ihn noch nicht gefunden, diesen ungreifbaren Ort, Koke. Existierte er? War er ein Irrlicht, eine Fata Morgana? Du würdest ihn auch nicht im anderen Leben finden, denn wie dir gerade diese Schwester von Cluny prophezeit hatte, dir hatte man dort bestimmt einen Platz in der Hölle reserviert. Wenn ihr, Marie Fernande und du, erhitzt und ermüdet vom Paradiesspiel, in den Salon des Hauses mit seinen ovalen Spiegeln, seinen Ölbildern, Teppichen und bequemen Polstersesseln kamt, dann saß dort an dem großen Fenster mit hölzernen Jalousien, von dem aus er die Straße beobachten konnte, ohne gesehen zu werden, stets der Großonkel Don Pío Tristán und trank seine Tasse dampfender Schokolade, in die er die biscotelas genannten Biskuits aus Lima tunkte. Immer bot er dir eines an, mit einem gütigen Lächeln: »Komm her, Pablito, kleiner Schlingel.«
    Nicht nur die Krankheit mit dem unaussprechlichen Namen verschlimmerte sich rasch seit Anfang des Jahres. Auch Pauls Zwist mit der Obrigkeit in Gestalt des Gendarmen Jean-Paul Claverie, der dich in das Labyrinth der Gesetze geraten ließ. Und dir wurde eines Tages klar, daß Ben Varney und Ky Dong nicht übertrieben hatten: So,wie es aussah, würdest du im Gefängnis landen und deine wenigen Besitztümer in staatlichen Händen.
    Im Januar 1903 traf einer dieser fliegenden Richter in Atuona ein, die von der Kolonialmacht ab und zu auf den Inseln herumgeschickt wurden, damit sie die anhängigen Rechtsstreitigkeiten schlichteten. Maître Horville, ein gelangweilter Justizbeamter, der den Meinungen und Ratschlägen Claveries folgte, befaßte sich vor allem mit dem Fall der neunundzwanzig Eingeborenen eines kleinen Dorfes im Tal von Hanaiapa, an der Nordküste der Insel. Claverie und Bischof Martin beschuldigten sie, wobei sie sich auf Denunziationen stützten, heimlich Alkohol destilliert und sich betrunken zu haben, was eine Verletzung der Vorschrift darstellte, die den Einheimischen verbot, alkoholische Getränke zu sich zu nehmen. Koke übernahm die Verteidigung der Angeklagten und kündigte an, er werde sie vor Gericht vertreten. Doch er konnte sein Amt als Verteidiger nicht ausüben. Am Tag der Verhandlung erschien er wie ein Eingeborener der Marquesas gekleidet, nur mit seinem Pareo, mit nacktem, tätowiertem Oberkörper und barfuß. Mit herausfordernder Miene setzte er sich auf den Boden, zwischen die Angeklagten, die Beine nach Art der Einheimischen gekreuzt. Nachdem Richter Horville ihn eine ganze Weile schweigend mit wütenden Blicken durchbohrt hatte, wies er ihn wegen ungebührlichen Verhaltens vor dem Gericht aus dem Saal. Er solle sich wie ein Europäer kleiden, wenn er die Verteidigung der Angeklagten übernehmen wolle. Als Paul eine Dreiviertelstunde später mit Hose, Hemd, Krawatte, Jackett, Schuhen und Hut zurückkehrte, hatte der Richter sein Urteil bereits gefällt und die neunundzwanzig Maori zu fünf Tagen Gefängnis und hundert Francs Geldstrafe verurteilt. Kokes Ärger war so groß, daß er sich in der Tür des Postamtes, in dem die Verhandlung stattfand, übergeben mußte, Blut erbrach und einige Minuten lang das Bewußtsein verlor.
    Wenige Tage darauf kam der Freund Ky Dong spät in der Nacht, als Atuona schlief, mit einer beunruhigendenNachricht zum Haus der Wonnen. Er kannte sie nicht aus direkter Quelle, sondern über ihren gemeinsamen Freund, den Händler Emile Frébault, der wiederum Freund des Gendarmen Claverie war, mit dem er die Leidenschaft für die tamara’a teilte, diese Eßgelage, bei denen die Nahrungsmittel unter der Erde mit heißen Steinen gegart wurden. Als sie das letztemal zum Fischen hinausgefahren waren, hatte der Gendarm, außer sich vor Freude, Frébault eine Mitteilung der Behörden von Tahiti gezeigt, in der ihm gestattet wurde, »so bald wie möglich gegen das Subjekt Gauguin vorzugehen, es zu brechen oder zu vernichten, da seine Angriffe auf die Pflichtschule und die Zahlung von Steuern die Arbeit der katholischen Mission untergraben und die Eingeborenen verderben, die zu schützen sich Frankreich verpflichtet hat«. Ky Dong hatte diesen Satz notiert, den er mit ruhiger Stimme im Licht einer Kerze vorlas. Alles war sanft und geschmeidig an dem annamitischen Prinzen; Koke erinnerte er an eine Katze, einen Panther, einen Leoparden. Dieser
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