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Das Paradies ist anderswo

Das Paradies ist anderswo

Titel: Das Paradies ist anderswo
Autoren: Mario Vargas Llosa
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heimlichen Besucherinnen einen Gegenstand oder eine Zeichnung als Erinnerung aus dem Haus der Wonnen mitgenommen.
    Eines Tages, als er, ermutigt durch das gute Wetter und ein Nachlassen des Brennens an seinen Beinen, sich von den beiden Dienern in den Ponywagen hieven ließ und zu einer Spazierfahrt hinunter zum Strand aufbrach, bewegte ihn der Anblick der Sonne, die über der kleinen benachbarten Insel Hanakee – dem ewigen, reglosen Walfisch – vor ihrem Untergang ihre letzten Strahlen aussandte, so sehr, daß ihm die Tränen in die Augen traten. Und er empfand heftiger denn je die Sehnsucht nach der verlorenen Gesundheit. Wie gern wärst du in der Lage gewesen, Koke, diese Berge, den Temetiu und den Feani, zu besteigen, ihre steilen, bewaldeten Abhänge, und ihre tiefen Täler zu erkunden auf der Suche nach verlorenen Dörfern, wo du die geheimen Tätowierer am Werk sehen könntest und wo man dich eingeladen hätte, an einem Festbankett mit verjüngendem Menschenfleisch teilzunehmen. Denn du wußtest es: Nichts von alldem war verschwunden in den verborgenen Tiefen der Wälder, bis zu denen die Macht von Monseigneur Martin oder von Pastor Vernier oder des Gendarmen Claverie nicht reichte. Auf dem Rückweg, als er über die Straße fuhr, die das Rückgrat von Atuona bildete, gewahrten seine schwachen Augen auf dem freien Feld neben den Gebäuden der katholischen Mission – der Jungenschule, der Mädchenschule, der Kirche und der Residenz des Bischofs Joseph Martin – etwas, das ihn veranlaßte, das Pony zu zügeln und sich zu nähern. Im Kreis stehend und von einer Nonne beaufsichtigt, spielten einige der kleineren Schülerinnen unter fröhlichem, lautem Geschrei. Es war nicht das Sonnenlicht, das die Gesichter und die in ihre Schulkleidung gehüllten Gestalten der Schülerinnen auflöste, die im Laufschritt ihre Positionen im Kreiswechselten, sobald das Mädchen in der Mitte, das »raus« war, sich einer von ihnen näherte, um sie etwas zu fragen; es war sein abnehmendes Sehvermögen, das dieses Kinderspiel vor seinen Augen verschwimmen ließ. Was fragte das Mädchen die kleinen Freundinnen des Kreises, an die es herantrat, und mit welcher Antwort fertigten diese sie ab? Es war offensichtlich, daß es sich um Formeln handelte, die sowohl die eine als auch die anderen wie am Schnürchen hersagten. Dabei sprachen sie nicht Französisch, sondern das Maori der Marquesas, das Koke schlecht verstand, vor allem, wenn es aus dem Mund von Kindern kam. Doch er erriet sogleich, was es für ein Spiel war, was das Mädchen fragte, während es im Kreis von einer Freundin zur anderen hüpfte, und daß es mit dem stets gleichen Satz abgewiesen wurde:
    »Ist hier das Paradies?«
    »Nein, mein Fräulein, hier nicht. Das Paradies ist anderswo. Fragen Sie an der nächsten Ecke.«
    Eine warme Welle stieg in ihm hoch. Zum zweiten Mal an diesem Tag füllten seine Augen sich mit Tränen.
    »Sie spielen das Paradiesspiel, nicht wahr, Schwester?« fragte er die Nonne, eine kleine, zarte Frau, halb verloren in ihrer Tracht mit den großen Falten.
    »Ein Ort, an den Sie nie gelangen werden«, erwiderte ihm die Nonne, während sie ihm in einer Art Exorzismus ihre kleine Hand entgegenstreckte. »Gehen Sie, kommen Sie diesen Mädchen nicht zu nahe, ich bitte Sie.«
    »Ich habe dieses Spiel auch gespielt, als ich klein war, Schwester.«
    Koke trieb sein Pony an und lenkte es in die Richtung, in der der Make Make rauschte, zum Haus der Wonnen. Warum rührte es dich so, daß auch diese kleinen Mädchen der Marquesas das Paradiesspiel spielten? Weil bei ihrem Anblick in deiner Erinnerung dein eigenes Bild aufgestiegen war – mit einer Deutlichkeit, mit der deine Augen die Welt niemals wieder sehen würden –, in kurzen Hosen, mit Latz und Locken, wie auch du, als Junge, der »raus« war,inmitten eines Kreises von Vettern und Kusinen und Kindern aus der Nachbarschaft des Viertels San Marcelo, hin und her liefst und in deinem in Lima gelernten Spanisch fragtest: »Ist hier das Paradies?« »Nein, es ist anderswo, mein Herr, fragen Sie an der nächsten Ecke«, während hinter deinem Rücken Jungen und Mädchen ihren Platz im Kreis wechselten. Das Haus der Echeniques und der Tristáns, eines der kolonialen Herrenhäuser im Zentrum von Lima, wimmelte von indianischen, schwarzen und mestizischen Dienstmädchen und Hausdienern. Im dritten Innenhof, den zu betreten deine Mutter dir und deiner kleinen Schwester Marie Fernande verboten hatte, war ein
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