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Das Paradies ist anderswo

Das Paradies ist anderswo

Titel: Das Paradies ist anderswo
Autoren: Mario Vargas Llosa
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unternehmen, um deine Ideen zu verbreiten und die Arbeiterunion in Gang zu bringen.
    Er überzeugte dich. Du machtest dich sofort an die Vorbereitungen. Es war eine große Idee, du würdest es tun. Und das sagtest du dem guten Moreau und allen, die dir zuhörten, auch dir selbst, in diesen hektischen Monaten der Vorbereitungen: »Man hat viel über die Arbeiter geredet, in Parlamenten, auf Kanzeln, in Versammlungen. Aber niemand hat versucht, mit ihnen zu reden. Ich werde es tun. Ich werde sie in ihren Werkstätten, in ihren Wohnungen, wenn nötig in ihren Wirtshäusern aufsuchen. Und dort, im Angesicht ihres Elends, werde ich ihnen Tränen über ihr Schicksal entlocken und sie gegen ihren Willen zwingen, aus dem schrecklichen Elend zu fliehen, das sie entwürdigt und umbringt. Und ich werde sie dazu bringen, daß sie sich mit uns, den Frauen, verbünden. Und daß sie kämpfen.«
    Du hattest es getan, Florita. Trotz der Kugel nahe an deinem Herzen, trotz deiner Beschwerden, deiner Erschöpfung und dieses ominösen, namenlosen Übels, das deine Kräfte untergrub, hattest du es in den zurückliegenden acht Monaten getan. Wenn die Dinge nicht ganz geglückt waren, dann nicht aus einem Mangel an Bemühen, an Überzeugung, an Selbstüberwindung, an Idealismus. Wenn sie nicht ganz geglückt waren, dann deshalb, weil in diesem Leben die Dinge nie so glückten wie in den Träumen. Schade, Florita.
    Da sie sich trotz des Opiums schreiend vor Schmerzen auf dem Lager wand, ließen ihr die Ärzte am 12. November 1844 heiße Umschläge auf den Bauch legen und Saugnäpfe auf den Rücken setzen. Sie verschafften ihr nicht die geringste Erleichterung. Am 14. verkündeten sie, Flora liege im Sterben. Nachdem sie eine halbe Stunde lang in einem Zustand fiebriger Erregung gestöhnt und geschrienhatte – die letzte Schlacht, Madame-la-Colère –, fiel sie ins Koma. Um zehn Uhr abends war sie tot. Sie war einundvierzig Jahre alt und sah aus wie eine alte Frau. Das Ehepaar Lemonnier schnitt ihr zwei Haarlocken ab, eine für Eléonore Blanc, die andere für Aline.
    Es kam zu einer kurzen Auseinandersetzung zwischen dem Ehepaar und Eléonore wegen Floras Verfügungen in bezug auf ihre sterblichen Überreste. Alle drei kannten sie, und Eléonore war dafür, den letzten Willen von Madame zu respektieren und ihren Kopf dem Präsidenten der Phrenologischen Gesellschaft von Paris und ihren Leichnam Doktor Lisfranc zu übergeben, damit er ihn im Hôpital de la Pitié vor seinen Studenten sezieren könne. Und die verbleibenden Reste ohne jede Zeremonie in einem Massengrab zu begraben.
    Charles und Elise Lemonnier brachten jedoch vor, daß diese testamentarische Bestimmung angesichts der Sache, die Flora mit soviel Mut und Großmut verfochten hatte, nicht respektiert werden durfte. Man müsse den Frauen und den Arbeitern, den heutigen und den künftigen, die Möglichkeit geben, ihr an ihrem Grab zu huldigen. Am Ende fügte Eléonore sich ihren Argumenten. Aline wurde nicht zu Rate gezogen.
    Das Ehepaar Lemonnier gab bei einem Künstler aus Bordeaux eine Totenmaske der Verstorbenen in Auftrag und kaufte für ihre sterblichen Überreste ein Grab auf dem alten Friedhof La Chartreuse. Die Totenwache dauerte zwei Tage, aber es gab keine religiöse Zeremonie, und man erlaubte keinem Geistlichen den Zutritt.
    Die Beerdigung fand am 16. November statt, kurz vor Mittag. Der Trauerzug verließ das Haus des Ehepaars Lemonnier in der Rue de Saint-Pierre und zog zu Fuß, unter einem grauen, regnerischen Himmel, langsam durch die Straßen der Innenstadt von Bordeaux, bis zu La Chartreuse. Dem Sarg folgten einige Schriftsteller, Journalisten, Anwälte, eine gute Anzahl von Frauen aus dem Volk und fast hundert Arbeiter. Letztere lösten sich ab, um den Sargzu tragen, der fast nichts wog. Die Seile des Sarges hielten ein Tischler, ein Steinmetz, ein Schmied und ein Schlosser.
    Während der Begräbniszeremonie auf dem Friedhof erblickte das Ehepaar Lemonnier in einiger Entfernung vom Trauerzug den angeblichen Stouvenel, der ihnen den Geistlichen ins Haus gebracht hatte. Es war ein schlanker, in strenges Dunkel gekleideter Mann. Seinen sichtbaren Bemühungen zum Trotz konnte er die Tränen nicht zurükkhalten. Er wirkte erschüttert, von tiefem Schmerz erfüllt. Als die Anwesenden auseinanderzugehen begannen, trat das Ehepaar zu ihm, um ihn zur Rede zu stellen. Sie sahen erstaunt, wie mitgenommen und niedergedrückt er war.
    »Sie haben uns angelogen, Monsieur
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