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Das Paradies ist anderswo

Das Paradies ist anderswo

Titel: Das Paradies ist anderswo
Autoren: Mario Vargas Llosa
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das Tageslicht heraufzog, nicht um ihre Mission, um die leidende Menschheit oder um die Arbeiter, die sie für die Arbeiterunion gewinnen wollte. Sie dachte an das Haus, in dem sie zur Welt gekommen war, in Vaugirard, am Rand von Paris, in einem dieser bürgerlichen Vororte, die sie jetzt verabscheute. War es dieses weiträumige, behagliche Haus mit seinen gepflegten Gartenanlagen und geschäftigen Dienstmädchen, das in deiner Erinnerung aufstieg, oder waren es die Beschreibungen deiner Mutter, als ihr nicht mehr im Reichtum, sondern in Armut lebtet und die hilflose Frau sich mit diesen ergötzlichen Erinnerungen über die Feuchtigkeitsflecken, das dichte Aufeinanderleben, die Enge und Häßlichkeit der beiden kleinen Zimmer in der Rue du Fouarre hinwegtröstete? Dort hattet ihr Zuflucht suchen müssen, nachdem die Behörden euch aus dem Haus in Vaugirard vertrieben hatten, mit der Begründung, die Ehe deiner Eltern, die ein expatriierter französischer Geistlicher in Bilbao geschlossen hatte, sei ungültig und Don Mariano Tristán, Spanier aus Peru, sei Bürger eines Landes, mit dem Frankreich sich im Krieg befinde.
    Es lag nahe, Florita, daß deine Erinnerung aus den ersten Jahren nur das bewahrte, was deine Mutter dir erzählthatte. Du warst zu klein, um dich an die Gärtner, an die Dienstmädchen zu erinnern oder an die mit Samt und Seide gepolsterten Möbel, die schweren Vorhänge, die Gegenstände aus Silber, Gold, Kristall und handbemalter Keramik, die das Wohn- und das Eßzimmer schmückten. Madame Tristan flüchtete sich in die glanzvolle Vergangenheit in Vaugirard, um nicht die Not und das Elend der übelriechenden Place Maubert sehen zu müssen, auf der es nur so wimmelte von Bettlern, Vagabunden und sonstigem Gesindel, oder die Rue du Fouarre mit ihren Spelunken, in der du einige Kindheitsjahre verbrachtest, an die du dich sehr wohl erinnern konntest. Die Schüsseln mit Wasser hinauf- und hinuntertragen, den Mülleimer hinauf-und hinuntertragen. Immer in der Furcht, auf der steilen Treppe mit den morschen, knarrenden Stufen diesem alten Trunkenbold mit hochrotem Gesicht und geschwollener Nase zu begegnen, Onkel Giuseppe mit der lockeren Hand, der dich mit seinem Blick beschmutzte und dich manchmal kniff. Jahre des Mangels, der Angst, des Hungers, der Traurigkeit, vor allem wenn deine Mutter in einen Zustand wirrer Betäubung versank, unfähig, ihr Unglück zu akzeptieren, nachdem sie wie eine Königin gelebt hatte mit ihrem Ehemann – ihrem rechtmäßigen Ehemann vor Gott, trotz allem und jedem – Don Mariano Tristán y Moscoso, Oberst der Armee des Königs von Spanien, früh verstorben an einem plötzlichen Schlaganfall am 4. Juni 1807, als du gerade erst vier Jahre und zwei Monate alt warst.
    Es war auch unwahrscheinlich, daß du dich an deinen Vater erinnern konntest. Das volle Gesicht, die dichten Augenbrauen und der krause Schnurrbart, die leicht rosige Gesichtshaut, die Hände voller Ringe, die langen grauen Koteletten, wie sie in deiner Erinnerung lebten, gehörten nicht dem Vater aus Fleisch und Blut, der dich auf seinem Arm in den Garten in Vaugirard trug, damit du die Schmetterlinge sehen konntest, die zwischen den Blumen flatterten, und sich bisweilen herbeiließ, dir die Flasche zu geben, diesem Herrn, der stundenlang in seinem Arbeitszimmerdie Chroniken französischer Reisender in Peru las, dem Don Mariano, der zu Hause den jungen Simón Bolívar empfing, den künftigen Befreier Venezuelas, Ecuadors, Boliviens und Perus. Sie gehörten dem Bildnis, das in der kleinen Wohnung der Rue du Fouarre auf dem Nachttisch deiner Mutter stand. Sie gehörten Don Marianos Porträts in Öl, die die Familie Tristán in ihrem Haus in der Calle Santo Domingo, in Arequipa, besaß und vor denen du Stunden zugebracht hattest, bis du schließlich sicher warst, daß dieser gutaussehende, elegante, wohlhabende Herr dein Erzeuger war.
    Sie vernahm die ersten morgendlichen Geräusche in den Straßen von Auxerre. Flora wußte, daß sie nicht mehr schlafen würde. Ihre Verabredungen begannen um neun. Sie verdankte sie alle dem Schlosser Moreau und den Empfehlungsschreiben des guten Agricol Perdiguier an seine Freunde der hiesigen Arbeitergenossenschaften. Du hattest Zeit. Noch eine Weile im Bett, und du wärst besser gerüstet, um den Umständen gewachsen zu sein, Andalusierin.
    Was wäre gewesen, wenn Oberst Don Mariano Tristán noch viele Jahre weitergelebt hätte? Du hättest die Armut nicht kennengelernt,
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