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Das Paradies ist anderswo

Das Paradies ist anderswo

Titel: Das Paradies ist anderswo
Autoren: Mario Vargas Llosa
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Florita. Dank einer guten Mitgift wärst du jetzt verheiratet mit einem gutsituierten Bürger und würdest vielleicht in einer schönen Villa mit Park in Vaugirard leben. Du würdest nicht ahnen, was es heißt, ins Bett zu gehen, während der Hunger dir die Eingeweide zerreißt; du würdest nicht wissen, was Begriffe wie »Herabsetzung« und »Ausbeutung« bedeuten; »Ungerechtigkeit« wäre ein abstraktes Wort für dich. Aber deine Eltern hätten dir vielleicht Bildung mitgegeben, Schulen, Lehrer, einen Hauslehrer. Sicher war das freilich nicht: ein Mädchen aus guter Familie wurde nur dazu erzogen, sich einen Ehemann zu angeln und eine gute Mutter und Hausfrau zu sein. All die Dinge, die du aus Not lernen mußtest, wären dir unbekannt. Andererseits würdest du diese Rechtschreibfehler nicht machen, für die du dich dein ganzes Lebengeschämt hast, und hättest sicher mehr Bücher gelesen als bisher. Du hättest dich all die Jahre mit deiner Garderobe beschäftigt, dich um deine Hände, deine Augen, dein Haar, deine Taille gekümmert, ein mondänes Leben mit Abendgesellschaften, Bällen, Theaterbesuchen, Landpartien, Ausflügen, Tändeleien geführt. Du wärst ein schöner Parasit, eingekapselt in deine gute Ehe. Du hättest nie Neugier empfunden für die Welt jenseits dieser Festung, hinter deren Mauern du im Schatten deines Vaters, deiner Mutter, deines Ehemanns, deiner Kinder gelebt hättest. Gebärmaschine, glückliche Gefangene, wärst du an den Sonntagen zur Messe gegangen, hättest am ersten Freitag im Monat die heilige Kommunion empfangen und wärst mit deinen einundvierzig Jahren eine rundliche Matrone mit einer unwiderstehlichen Leidenschaft für Schokolade und Novenen. Du wärst nicht nach Peru gereist, hättest weder England kennengelernt noch die Lust in den Armen Olympes erfahren, noch die Bücher geschrieben, die du geschrieben hast, trotz deiner Rechtschreibfehler. Und dir wäre natürlich niemals das Sklavendasein der Frauen bewußt geworden, wie dir auch nicht der Gedanke gekommen wäre, daß sie, um sich zu befreien, das Bündnis mit den anderen Ausgebeuteten suchen mußten, um eine friedliche Revolution herbeizuführen, die für die Zukunft der Menschheit ebenso bedeutend sein würde, wie es das Erscheinen des Christentums vor 1844 Jahren gewesen war. »Ein Glück, daß du gestorben bist, mon cher papa «, sagte sie lachend, während sie aus dem Bett sprang. Sie war nicht müde. In den letzten vierundzwanzig Stunden hatte sie keine Schmerzen im Rücken oder in der Gebärmutter gehabt und auch nicht den kalten Gast in der Brust gespürt. Du warst bestens gelaunt, Florita.
    Die erste Versammlung, um neun Uhr morgens, wurde in einer Werkstatt abgehalten. Der Schlosser Moreau, der sie hätte begleiten sollen, hatte Auxerre wegen eines Todesfalls in der Familie eilig verlassen müssen. Also Soloauftritt, Andalusierin. Wie vereinbart, erwarteten sie etwadreißig Mitglieder einer Gesellschaft, die zu den vielen gehörte, in die sich die Mutualisten in Auxerre aufgespalten hatten, und einen hübschen Namen trug: Freiheitspflicht. Fast alle waren Schuster. Argwöhnische, verlegene, auch spöttische Blicke, weil die Besucherin eine Frau war. Sie war an diese Reaktionen gewöhnt, seitdem sie vor Monaten begonnen hatte, in Paris und Bordeaux kleinen Gruppen ihre Vorstellungen über die Arbeiterunion vorzutragen. Sie sprach zu ihnen, ohne daß ihre Stimme zitterte, was sie sicherer wirken ließ, als sie eigentlich war. Das Mißtrauen ihrer Zuhörer schwand allmählich, während sie ihnen erklärte, daß die Arbeiter durch ihren Zusammenschluß erreichen könnten, wonach sie strebten – Recht auf Arbeit, Schulbildung, Gesundheit, würdige Existenzbedingungen –, während sie als einzelne von den Reichen und den staatlichen Instanzen immer mißhandelt würden. Alle nickten, als sie zur Unterstützung ihrer Ideen Pierre-Joseph Proudhons umstrittenes Buch Was ist Eigentum? anführte, das seit seinem Erscheinen vor vier Jahren durch seine kategorische Behauptung »Eigentum ist Diebstahl« in Paris so viel von sich reden machte. Zwei der Anwesenden, die Fourieristen zu sein schienen, hatten sich vorbereitet und griffen sie mit Argumenten an, die Flora schon von Agricol Perdiguier gehört hatte: Wenn die Arbeiter von ihren Hungerlöhnen ein paar Francs abknapsen mußten, um die Beiträge für die Arbeiterunion zu bezahlen, wie sollten sie dann ihren Kindern zu essen geben? Sie ging geduldig auf all ihre Einwände
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