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Das Paradies ist anderswo

Das Paradies ist anderswo

Titel: Das Paradies ist anderswo
Autoren: Mario Vargas Llosa
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die Keuschheit als Symbol spiritueller Reinheit schürten außerdem die Vorurteile, die aus der Frau nachgerade eine Sklavin gemacht hatten.
    Das Gesicht des Pfarrers war nicht mehr blaß, sondern von der Röte eines Apoplektikers. Er blinzelte verwirrt und erschrocken. Flora verstummte, als sie sah, wie er sich zitternd auf seinen Schreibtisch stützte. Er schien einer Ohnmacht nahe.
    »Wissen Sie, was Sie da sagen, Madame«, stammelte er. »Für derartige Ideen bitten Sie die Kirche um Hilfe?«
    Ja, für diese Ideen. Erhob die katholische Kirche denn nicht den Anspruch, die Kirche der Armen zu sein? War sie nicht gegen die Ungerechtigkeiten, das Gewinnstreben, die Ausbeutung des Menschen, die Habsucht? Wenn all das stimme, dann habe die Kirche die Pflicht, ihre schirmende Hand über einen Plan zu halten, dessen Ziel es sei, im Namen der Liebe und Brüderlichkeit Gerechtigkeit in der Welt herrschen zu lassen.
    Es war, als spräche sie zu einer Wand oder zu einem Maulesel. Flora versuchte noch eine Weile, sich verständlich zu machen. Vergeblich. Der Pfarrer brachte nicht einmal Argumente gegen ihre Erklärungen vor. Er betrachtete sie mit einer Mischung aus Abscheu und Furcht, ohne seine Ungeduld zu verhehlen. Schließlich murmelte er, er könne ihr keine Hilfe versprechen, denn dies hänge vom Bischof der Diözese ab. Sie solle diesem ihr Vorhaben vortragen, wenn es auch, sagte er, unwahrscheinlich sei, daß ein Bischof sich zum Fürsprecher einer offen antikatholischen Bewegung machen werde. Und wenn der Bischof es verbieten sollte, würde ihr kein Gläubiger helfen, denn die katholische Herde gehorche ihren Hirten. ›Und die Saintsimonisten wollen das Autoritätsprinzip stärken, damit dieGesellschaft funktioniert‹, dachte Flora, während sie ihm zuhörte. ›Dieser Respekt vor der Autorität, der aus den Katholiken Automaten wie diesen armen Teufel macht.‹
    Sie versuchte, sich höflich von Pater Fortin zu verabschieden, und überreichte ihm ein Exemplar von L’Union Ouvrière .
    »Lesen Sie es wenigstens, Pater. Sie werden sehen, daß mein Plan von christlichen Gefühlen durchdrungen ist.«
    »Ich werde es nicht lesen«, sagte Pater Fortin mit energischem Kopfschütteln, ohne das Buch entgegenzunehmen. »Mir genügt, was Sie mir gesagt haben, um zu wissen, daß dieses Buch nicht gesund ist. Daß es vielleicht, ohne daß Sie es wissen, vom leibhaftigen Teufel inspiriert ist.«
    Flora lachte auf, während sie das kleine Buch wieder in ihre Tasche steckte.
    »Sie sind einer dieser Geistlichen, die am liebsten wieder Scheiterhaufen auf den Plätzen errichten und alle freien und intelligenten Wesen dieser Welt verbrennen würden, Pater«, sagte sie ihm zum Abschied.
    In ihrem Zimmer in der Herberge aß sie eine heiße Suppe und zog dann die Bilanz ihres Tages in Auxerre. Sie war nicht pessimistisch gestimmt. Gute Miene zum bösen Spiel, Florita. Es war ihr nicht sehr gut ergangen, aber auch nicht ganz schlecht. Ein hartes Geschäft, sich in den Dienst der Menschheit zu stellen, Andalusierin.

II

Der Geist der Toten wacht
Mataiea, April 1892
    Den Spitznamen Koke verdankte er Teha’amana, seiner ersten Frau auf der Insel, denn die vorherige, die schwatzhafte Titi, die anglo-tahitianische Mulattin, mit der er in seinen ersten Monaten auf Tahiti zunächst in Papeete, dann in Paea und schließlich in Mataiea zusammengelebt hatte, war nicht eigentlich seine Frau, sondern nur eine Geliebte gewesen. Damals hatten ihn alle Paul genannt.
    Er war im Morgengrauen des 9. Juni 1891 in Papeete angekommen, nach einer Überfahrt, die zweieinhalb Monate gedauert hatte, seitdem er in Marseille an Bord gegangen war, mit Zwischenstops in Aden und Noumea, wo er das Schiff wechseln mußte. Als er endlich seinen Fuß auf Tahiti setzte, war er gerade dreiundvierzig Jahre alt geworden. Er hatte seinen ganzen Besitz bei sich, so als wollte er klarstellen, daß er Europa und Paris für immer den Rücken gekehrt hatte: hundert Yard Leinwand zum Malen, Farben, Öle und Pinsel, ein Jagdhorn, zwei Mandolinen, eine Gitarre, mehrere bretonische Pfeifen, eine alte Pistole und einige wenige gebrauchte Kleidungsstücke. Er war ein Mann, der kräftig wirkte – aber deine Gesundheit war insgeheim schon untergraben, Paul –, mit leicht hervorspringenden, regen blauen Augen, einem Mund mit geraden Lippen, die fast immer leicht verächtlich verzogen waren, und einer gebrochenen Raubvogelnase. Er trug einen kurzen krausen Bart und langes
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