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Das Paradies ist anderswo

Das Paradies ist anderswo

Titel: Das Paradies ist anderswo
Autoren: Mario Vargas Llosa
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einflußreichsten Unternehmern und, natürlich, mit den Kirchenbehörden. Um letzteren klarzumachen, daß ihr Plan nicht etwa, wie behauptetwurde, einem Bürgerkrieg den Weg ebnete, sondern einer Revolution ohne Blutvergießen, die im Christentum wurzelte und von Liebe und Brüderlichkeit getragen war. Daß die Arbeiterunion mit ihrem Streben, den Armen und den Frauen Gerechtigkeit und Freiheit zu bringen, gerade die Ausbrüche von Gewalt verhindern würde, die in Frankreich unvermeidlich waren, wenn die Dinge so weitergingen wie bisher. Wie lange noch durfte sich eine bevorrechtigte Minderheit am Elend der riesigen Mehrheit mästen? Wie lange noch durfte die Sklaverei, die für die Männer abgeschafft war, für die Frauen weiter bestehen? Sie besaß Überredungsgabe; viele Bürger und Geistliche würden sich von ihren Argumenten überzeugen lassen.
    Doch in Auxerre konnte sie keine Zeitung aufsuchen, da es keine gab. Eine Stadt mit zwölftausend Seelen und keine Zeitung. Die Bürger hier waren krasse Ignoranten.
    In der Kathedrale führte sie ein im Streit endendes Gespräch mit dem Pfarrer, Pater Fortin, einem kleinen rundlichen, halbkahlen Mann mit verschreckten Äuglein, Mundgeruch und speckiger Soutane, dessen Stumpfsinn sie aus der Haut fahren ließ. (›Du hast dich nicht in der Gewalt, Florita.‹) Sie hatte ihn in seinem Haus neben der Kathedrale aufgesucht und sah überrascht, wie weiträumig und gut eingerichtet es war. Die Haushälterin, eine alte Frau mit Haube und Schürze, führte sie hinkend zum Amtszimmer des Geistlichen. Dieser ließ eine Viertelstunde verstreichen, bevor er sie empfing. Als er erschien, nahmen seine untersetzte Gestalt, sein ausweichender Blick und sein ungepflegtes Äußeres sie sogleich gegen ihn ein. Pater Fortin hörte ihr schweigend zu. Bemüht, freundlich zu sein, erklärte Flora ihm den Grund für ihren Besuch in Auxerre. Was es mit ihrem Plan der Arbeiterunion auf sich hatte und daß aus diesem Bündnis der gesamten Arbeiterklasse, zuerst in Frankreich, dann in Europa und später in der ganzen Welt, eine wahrhaft christliche, von Nächstenliebe erfüllte Menschheit hervorgehen würde. Er betrachtete sie mit ungläubigem Staunen, das sich in Argwohnund schließlich in Entsetzen verwandelte, als Flora ausführte, daß die Delegierten der künftigen Arbeiterunion den staatlichen Instanzen – bis hin zu König Louis-Philippe höchstpersönlich – ihre Forderungen nach gesellschaftlichen Reformen vortragen würden, beginnend mit der absoluten Gleichheit der Rechte für Männer und Frauen.
    »Aber das wäre ja eine Revolution«, murmelte der Pfarrer, wobei er einen feinen Speichelregen versprühte.
    »Im Gegenteil«, klärte Flora ihn auf. »Die Arbeiterunion entsteht, um sie zu vermeiden, damit die Gerechtigkeit ohne das geringste Blutvergießen siegen kann.«
    Andernfalls könne es womöglich mehr Tote geben als 1789. Waren dem Pfarrer denn durch den Beichtstuhl nicht die Mißgeschicke der Armen bekannt? Sah er denn nicht, daß Hunderttausende, Millionen von Menschen fünfzehn, achtzehn Stunden am Tag wie Tiere arbeiteten und daß ihre Löhne nicht einmal ausreichten, um ihren Kindern zu essen zu geben? War ihm denn nicht klar, ihm, der sie tagtäglich in der Kirche hörte und sah, wie die Frauen von ihren Eltern, ihren Ehemännern, ihren Kindern gedemütigt, mißhandelt, ausgebeutet wurden? Ihr Los war noch schlimmer als das der Arbeiter. Wenn sich das nicht änderte, würde es in der Gesellschaft zu einer Explosion von Haß kommen. Genau das wolle die Arbeiterunion verhindern. Die katholische Kirche müsse ihr bei ihrem Kreuzzug helfen. Wollten die Katholiken denn nicht Frieden, Nächstenliebe, soziale Harmonie? In dieser Hinsicht bestehe völlige Übereinstimmung zwischen der Kirche und der Arbeiterunion.
    »Ich bin zwar nicht katholisch, aber ich lasse mich bei all meinen Handlungen von der christlichen Lehre und Moral leiten, Pater«, versicherte sie ihm.
    Als er sie sagen hörte, sie sei keine Katholikin, wohl aber Christin, wurde das runde Gesicht von Pater Fortin blaß. Er zuckte zusammen und wollte wissen, ob das bedeute, daß Madame Protestantin sei. Flora verneinte: Sie glaubean Jesus, aber nicht an die Kirche, denn nach ihrer Meinung beschränke die katholische Religion mit ihrem Obrigkeitsdenken die menschliche Freiheit. Und ihre dogmatischen Anschauungen erstickten das geistige Leben, den freien Willen, die wissenschaftlichen Initiativen. Und ihre Lehren über
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