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Das Paradies ist anderswo

Das Paradies ist anderswo

Titel: Das Paradies ist anderswo
Autoren: Mario Vargas Llosa
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deinem Atelier angehäuften Bilder, auf denen deine Augen kaum mehr als Farben und Linien, gewisse Formen und ungestalte Flecken erkennen konnten, dir Gesellschaft leisten würden. Es war absurd, daß ein Maler sein Sehvermögen verlor, das wesentliche Werkzeug seiner Berufung und seiner Arbeit. Was für eine Art, Scheißgott, deine Wut an einem armen Wilden auszulassen, der den Tod vor Augen hatte. Warst du denn in deinem fünfundfünfzigjährigen Leben so ruchlos gewesen, um eine derartige Strafe zu verdienen? Nunja, vielleicht doch, Paul. Mette glaubte es und hatte es dir in dem letzten Brief gesagt, den sie dir vor einem?, zwei? Jahren geschrieben hatte. Ruchlos zu ihr, ruchlos zu deinen Kindern, ruchlos zu deinen Freunden. Warst du das, Koke? Die meisten dieser Bilder hattest du vor Monaten gemalt, als deine Augen zwar schon schlecht, aber nicht so unbrauchbar waren wie jetzt. Sie waren ziemlich lebendig in deiner Erinnerung, mit ihren Formen, Farben, Nuancen. Welches war dir das liebste, Koke? Ohne Zweifel Die barmherzige Schwester . Eine Nonne der katholischen Mission bildete mit ihrer von Haube, Tracht und Schleier verhüllten Gestalt einen sinnfälligen Gegensatz zur Freiheit, zum Naturzustand des halbnackten mahu , der seine Existenz als freies, künstliches Frau-Mann-Wesen, sein erfundenes Geschlecht, seine unverstellte Phantasie völlig unbefangen und selbstgewiß vor der Welt zur Schau trug. Ein Bild, das die totale Unvereinbarkeit zweier Kulturen, ihrer Sitten und Religionen zeigte, die ästhetische und moralische Überlegenheit des schwachen, unterworfenen Volkes und die dekadente und repressive Unterlegenheit des starken, unterwerfenden Volkes. Wenn du dich statt mit Vaeoho mit einem mahu zusammengetan hättest, dann wäre dieser höchstwahrscheinlich noch bei dir und würde sich um dich kümmern; es war bekannt, daß die Frauen, die ihren Männern am meisten die Treue hielten, die mahus waren. Du warst kein vollkommener Wilder, Koke. Das fehlte dir: dich mit einem mahu zu paaren. Er dachte an Jotefa, den Holzfäller in Mataiea. Doch dein Herz hing auch an den Ölbildern und Zeichnungen mit den kleinen wilden Pferden, von denen es auf der Insel Hiva Oa wimmelte und die sich manchmal plötzlich Atuona näherten und das Dorf in gestrecktem Galopp durchquerten, panisch und schön, mit geweiteten Augen, und alles mit sich fortrissen, was sich ihnen in den Weg stellte. Du erinnertest dich vor allem an eines dieser Bilder, auf denen du rosafarbene Pferde gemalt hattest, Pferde von der Farbe der Abendröte am Himmel, die fröhlich in der Bucht der Verräter tänzelten,zwischen nackten Inselbewohnern, von denen einer sattellos auf einem Pferd am Saum des Meeres entlangritt. Was würden die Feingeister von Paris dazu sagen? Daß ein rosafarbenes Pferd die Exzentrizität eines Verrückten war. Sie konnten nicht ahnen, daß auf den Marquesas die Feuerkugel der Sonne, bevor sie im Meer versank, die belebten und unbelebten Wesen rot färbte und einige wundersame Augenblicke lang das ganze Antlitz dieser Erde schillern ließ.
    Nach dem 1. Mai hatte er fast keine Kraft mehr, das Bett zu verlassen. Er blieb in seinem Atelier im Oberstock, in einer zeitlosen Trägheit, mit dem vagen Gefühl, daß die Fliegen nicht mehr nur von den Verbänden an seinen Beinen angezogen wurden, sondern auch auf seinem übrigen Körper und auf seinem Gesicht herumspazierten, ohne daß er sich herabließ, sie zu verscheuchen. Da das Brennen und die Schmerzen in den Beinen zugenommen hatten, bat er Ben Varney, ihm die Injektionsspritze zurückzugeben, und Pastor Vernier, ihm Morphium zu beschaffen, mit einem Argument, das dieser nicht widerlegen konnte:
    »Was für einen Sinn hat es, mein guter Freund, daß ich wie ein Hund, wie ein lebendig Gehäuteter leide, wenn mein Tod nur eine Frage von Tagen oder höchstens Wochen ist?«
    Er selbst spritzte sich das Morphium, aufs Geratewohl, ohne sich die Mühe zu machen, die Nadel zu desinfizieren. Die Benommenheit schläferte seine Muskeln ein und beruhigte den Schmerz und das Brennen, aber nicht seine Vorstellungskraft. Im Gegenteil, es regte sie an, schürte ihre Glut. Er durchlebte noch einmal in Bildern, was er in seinen verworrenen, unvollendeten Erinnerungen mit viel Phantasie über das ideale Leben des Künstlers, des Wilden in seinem Urwald, über seine Umgebung sanfter und wilder Tiere – den Königstiger in den Wäldern Malaysias, die Kobra Indiens – geschrieben hatte. Der Künstler
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