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Das Nest der Nadelschlange

Das Nest der Nadelschlange

Titel: Das Nest der Nadelschlange
Autoren: Hubert Haensel
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ihm eisige Schauer den Rücken hinab. Aber gleichzeitig spendeten diese Augen ein wenig Licht, das es ihm ermöglichte, seine Umgebung zu erkennen.
    Was er sah, war nicht dazu angetan, Hoffnungen zu wecken. Die Frage, was geschehen war, wurde unwichtig gegenüber der Vorstellung, was noch geschehen würde.
    Eine ellenlange, gespaltene Zunge schnellte auf Mythor zu. Sie tastete über sein Gesicht, und wo sie die Haut berührte, schien es dem Recken, als schneide man ihm mit glühenden Klingen ins Fleisch. Er schrie, wie er noch nie in seinem Leben geschrien hatte.
    *
    Ohnmächtig musste Frerick Armos mit ansehen, wie die schwarzen Reiter die Menge auf engem Raum zusammentrieben. Auch er wurde geschlagen, gestoßen und getreten, eingeklemmt zwischen einer Traube Hilfesuchender, die sich ängstlich zusammendrängten. Frauen kreischten auf, Männer schimpften und fluchten, Kinder weinten. Dazwischen die lauten Befehle der Reiter; das metallische Klingen von Waffen, wenn dieser oder jener sich widersetzte. Es war ein unbeschreibliches Chaos.
    Die Reiter trennten die Spreu vom Weizen, so jedenfalls wollte es scheinen. Ihre langen Lanzen fuhren zwischen die Leute, drängten die einen am Ufer zusammen, die andern trieben sie zwischen die Häuser zurück, wo im Schein unzähliger Fackeln weitere Schergen warteten.
    Frauen wurden gezwungen, ihre Männer zu verlassen; Kinder nahm man ihren Eltern fort. Armos sah, dass sogar Säuglinge den Armen ihrer Mütter entrissen wurden. Andere mussten sich der hilflosen Wesen annehmen.
    Wo immer Gesunde und Kranke beieinander waren, Menschen, die noch keine Anzeichen des gelben Fiebers erkennen ließen, und solche, denen Gesicht und Gliedmaßen bereits angeschwollen, zum Teil sogar schon aufgeplatzt, blutig und bis zur Unkenntlichkeit entstellt waren, trieben die Reiter sie auseinander.
    Als Armos den Schaft einer Lanze auf seiner Schulter spürte, handelte er in blinder Wut und ohne zu überlegen. Seine Hände krallten sich um das Holz, und er zog daran mit aller Kraft, deren er noch fähig war. Der unverhoffte Erfolg überraschte ihn. Er taumelte, als der Reiter die Lanze fahrenließ.
    Mit einer blitzschnellen Bewegung wirbelte der Schmied die Waffe herum, dann stieß er sie vor. Die eiserne Spitze traf den Schergen an der Schläfe. Mit einem erstickten Laut sank er in sich zusammen und stürzte vom Pferd.
    Ringsum schrie die Meute auf. Aber noch ehe einige beherzte Männer es dem Schmied nachtun konnten, war ein halbes Dutzend Bewaffneter heran. Sie droschen auf alles ein, was sich bewegte, und Armos wurde gezwungen, sich der kleineren Gruppe anzuschließen, die man im Schein hell lodernder Fackeln durch die Gassen trieb. Allmählich verstummten Jammern und Wehklagen.
    Vor dem Schmied humpelte ein altes, gebrechliches Weib. In ihren Armen hielt sie einen kaum zwei Monde alten Säugling. Beide waren sie vom gelben Fieber gezeichnet. Endlich verstand Armos, was die schwarzen Tücher bedeuteten. Die Wachen wollten sich und ihre Pferde vor Ansteckung schützen. Allerdings eine vergebliche Hoffnung, denn die Luft, die sie atmeten, war bereits mit den Keimen des Bösen durchsetzt.
    Aber niemals würde er sich behandeln lassen wie einen Aussätzigen. Er tastete nach dem Dolch in seinem Gürtel. Sollte er es wagen, einen der Reiter anzuspringen und mit seinem Pferd davon zu preschen? Falls der andere auf der Hut war, würde er zumindest ein schnelles Ende finden.
    Lautlos brach die Alte zusammen. Noch im Fallen presste sie das Kind eng an sich. Eine Peitsche knallte. Schneidend zischten die Lederriemen an dem Schmied vorbei. »Weiter!« dröhnte eine befehlende Stimme, doch die Alte regte sich nicht mehr.
    »Sie ist tot«, sagte Armos.
    »Dann nimm du das Balg! Vorwärts!«
    Er bückte sich nach dem wimmernden Kind. Als er es in seine Arme nahm, verstummte es und blickte ihn aus großen, dunklen Augen an. Armos hielt es ungeschickt. Er hatte keine Erfahrung mit Kindern.
    »Gib es mir! Vielleicht kann das Kleine mir meinen Sohn ersetzen.«
    Diese Stimme. Armos wandte den Kopf, um sich die Frau genauer anzusehen, die so unverhofft neben ihm aufgetaucht war. Der Ausdruck von Kummer und Schmerz in ihrem Gesicht war noch stärker geworden. Tränen standen in ihren Augenwinkeln, als sie ihn beinahe flehend anblickte.
    »Ciarisse!« entfuhr es ihm.
    »Ja«, nickte sie, »aber sieh mich bitte nicht so an. Ich weiß, dass ich entstellt bin, denn ich habe mich vorhin im Wasser gespiegelt.«
    Zitternd
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