Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Nest der Nadelschlange

Das Nest der Nadelschlange

Titel: Das Nest der Nadelschlange
Autoren: Hubert Haensel
Vom Netzwerk:
hielt sie ihm ihre Hände entgegen, und er gab ihr den Säugling. Wenn der Tod kam, um einen nach dem anderen zu holen, würde sie wenigstens in der Gewissheit sterben können, einem hilflosen Geschöpf noch ein wenig Liebe geschenkt und die Mutter ersetzt zu haben.
    Welche Schuld hatten die Bewohner von Ugalos auf sich geladen, dass die Götter sie derart hart dafür bestraften? War es das ausschweifende, lasterhafte Leben der Edelleute, oder kam doch dem Fluch des Heroen eine besondere Bedeutung zu?
    Das Viertel der Ausgestoßenen, auf der am weitesten flussabwärts gelegenen Insel, hatte ihn wieder. Frerick Armos atmete den pestilenzialischen Gestank, der wie der Odem des Bösen in der Luft hing.
    Einige halb verfallene Gebäude inmitten von Unrat waren das Ziel der seltsamen Prozession. Aussätzige und Pestkranke fanden hier eine letzte Zuflucht, und es ging die Kunde, dass niemand je diese Mauern wieder verlassen habe.
    Armos zögerte, durch die niedrige Tür hindurchzutreten. Aber die Reiter trieben ihn unbarmherzig vorwärts.
    »Das gelbe Fieber soll auch euch befallen!« fluchte er, dann umfing ihn Düsternis. Männer und Frauen, die vor ihm waren, schrien auf. Armos wollte stehenbleiben, aber von hinten drängten andere nach und schoben ihn weiter.
    Er stolperte über harten, unebenen Boden. Die Angst saß ihm im Nacken. Aber solange noch ein Funke Leben in ihm war, würde er nicht aufgeben.
    Frerick Armos taumelte von einem Raum in den nächsten, polterte eine steile, knarrende Treppe empor. Dicker Staub, der unter seinen Schritten aufwirbelte und ihn zum Husten reizte, lag auf den Stufen. Und dann starrte er entsetzt auf den halb vermoderten Toten, der ihm gegenüber an einer Wand lehnte. Wagenradgroße Spinnennetze spannten sich zwischen den bleichen Knochen und dem Treppengeländer.
    Armos presste seine Stirn gegen das kühle Mauerwerk. Aber er konnte den Blick nicht abwenden. Allmählich beruhigte er sich wieder. Eines wusste er in diesem Augenblick genau: Hier würde er nicht sterben.
    *
    Der L'umeyn Mormand de Arrival Visond glaubte, nicht richtig gehört zu haben. Alles durfte sein Gegenüber von ihm verlangen, alles, nur das nicht. »Ich werde die Insel verlassen«, wiederholte er deshalb, wobei er sich bemühte, seinen Worten eine besondere Betonung zu geben, die keinen Widerspruch duldete. Aber er merkte selbst, dass es ihm nicht gelang. Der Erzmagier hatte in besseren Zeiten für ihn die Entscheidungen getroffen, er tat es auch diesmal.
    »Nein«, sagte Vassander und schüttelte den Kopf.
    »Aber es war ohnehin meine Absicht, den Sommerpalastjenseits des Flusses aufzusuchen.«
    »Nicht jetzt!«
    »Ich will nicht sterben, Vassander, verstehst du? Lass uns fliehen, bevor es zu spät ist.«
    »Niemand kann der Schwarzen Magie der Caer-Priester entkommen.«
    »Dann lass es uns wenigstens versuchen.« Flehend wurde sein Blick, mit dem er den Erzmagier ansah. Aber damit erreichte er überhaupt nichts. Eigentlich hätte er es wissen müssen.
    »Was soll das Volk von einem Lichtkönig halten, der vor dem ersten Unheil flieht, das über seine Stadt hereinbricht?«
    »Niemand wird es erfahren«, jammerte Mormand.
    »O doch!« nickte Vassander. »Glaube nicht, dass dein Verhalten dir zuträglich wäre. Jeder wird glauben, dass du Furcht empfindest.« »Aber der Pöbel hat selbst nichts anderes im Sinn, als Ugalos zu verlassen.«
    »Vergiss nicht, dass du befohlen hast, die Brücken zu sperren. Nur jene Adligen dürfen die Lorana überschreiten, die ein Jagdhaus oder überhaupt einen Sitz außerhalb haben.«
    »Schließlich kann ich sie unmöglich der Gefahr aussetzen. Ich verstehe nicht, weshalb du mir die Rettung verweigerst.«
    »Es sind die Sterne, L'umeyn. Sie stehen ungünstig.«
    »Für mich? Sprich! Was sagen sie?«
    Vassander fuhr sich mit der Hand durch seinen Bart. Er zögerte mit der Antwort. »Ich will dich nicht unnötig beunruhigen«, sagte er dann.
    »Rede endlich!« forderte Mormand.
    »Es liegen Schatten auf dem Geschlecht derer von Arrival. Du solltest dich davor hüten, die Götter herauszufordern. Bleib auf dem Platz, den sie für dich bestimmt haben!«
    »In Ugalos?«
    »In Ugalos!« nickte Vassander.
    »Aber warum? Soll ich so werden wie die bedauernswerten Seelen, die man in die Pesthäuser führt? Dann wäre niemand da, der zum Kampf gegen die Caer ruft. Willst du das?«
    »Diesen Wunsch hat wohl keiner in ganz Ugalien«, antwortete der Erzmagier. »Jedoch dünkt mir, dass dein
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher