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Das Nebelhaus

Das Nebelhaus

Titel: Das Nebelhaus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eric Berg
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Die nächste Sekunde zu überstehen, darum geht es. Vielleicht denkt sie nach dem zweiten, dritten Schritt, sie sei gerettet, ein flüchtiges Gefühl von Sicherheit, ausgelöst durch ihre schnelle Bewegung, die sie vermeintlich von der Gefahr wegführt. Und so läuft sie weiter, ohne sich umzuwenden, in der jahrtausendealten grotesken Hoffnung des Menschen, er sei schneller als der Tod, und Gott meine es gut mit ihm.
    Nian Nan rettete sich bis in meine nächtlichen Träume. Mitten in den unruhigen Schlaf stolperte die schwarz gekleidete Frau, noch immer auf der Flucht vor ihrem Mörder.
    Sie keucht. Da sieht sie ein Licht, warm und gleichmäßig, dem sie entgegenstrebt. Es kommt aus dem Nebelhaus. Sie schätzt die Entfernung ab. Noch zwanzig Schritte, noch fünfzehn, zehn, sieben, drei, zwei … In dem Moment, als sie glaubt, ihr Leben für ein paar weitere Jahre vor Gottes Zugriff in Sicherheit gebracht zu haben, und die Türklinke ergreift, dreht sie sich um – und erkennt ihren Irrtum. Dann passiert etwas Seltsames: Die Angst fällt von ihr ab, eine stoische Ruhe überkommt sie. Sie weiß, es ist vorbei. In den letzten Sekunden ihres Lebens denkt sie an nichts mehr, sie ist so leer wie in den ersten Sekunden ihres Lebens.
    Ich erwachte mitten in der Nacht. Die roten Leuchtziffern der Uhr verrieten mir die exakte Zeit, vier Uhr neun, und erschreckten mich. Kurz hatte ich gedacht, es wären Augen. Dann erst fiel mir der Traum wieder ein, der von einer Frau handelte, die längst tot war, die nicht ich war. Ein Traum, der jedoch mein Herz zum Klopfen brachte, als würde ich selbst verfolgt. Im folgenden Halbschlaf verwoben sich die Begriffe, Erlebnisse und Träume: pseudo-psychologisches Geschreibsel, Pol Pot, Gedichte in einem weißen Buch, die Blumen des Herrn Nan, Pistole, Mekong Sunset, drei Tote, Sturm, Nebelhaus, schlecht über Tote reden, Lichter, süße Reiskuchen, ein Lächeln, schweres Atmen, Koma, Mörderbande, ein Schuss, Telefonklingeln …
    Ich erwachte erneut, diesmal vom Läuten des Telefons, das auf dem Schreibtisch lag. Es war vier Uhr einundvierzig.
    »Hallo?«
    »Es tut mir leid«, sagte Yim. »Ich musste mich unbedingt jetzt entschuldigen, auch wenn es recht spät ist – oder früh, wie man will. Ich habe mich Ihnen gegenüber sehr ungerecht verhalten, denn soweit ich Sie einschätzen kann, schreiben Sie seriös, und ich verstehe Ihren Ansatz, nicht nur eine Chronologie, sondern auch eine Analyse der Katastrophe zu verfassen.«
    »Es ist vier Uhr zweiundvierzig, und Sie schaffen es, solche Schachtelsätze zu bilden?«
    »Heißt das, Sie verzeihen mir?«
    Ich lächelte. »Einer Journalistin fällt es nicht schwer, Schachtelsätze zu verzeihen.«
    »Mal im Ernst. Verzeihen Sie mir?«
    Darüber musste ich nicht lange nachdenken. »Natürlich. Sie sind in besonderer Weise von dem betroffen, was geschehen ist. Sie waren hautnah dran.«
    »Hautnah würde ich nicht sagen.«
    »Aber sehr nah. Sie haben die Schüsse gehört, die Toten gefunden, Ihre Mutter …«
    »Sie haben Recht, man kann es wohl hautnah nennen.«
    »Kein Wunder, dass es Sie noch heute aufwühlt. Nett, dass Sie wenigstens versucht haben, mit mir darüber zu sprechen.«
    »Ich würde es gerne noch einmal versuchen.«
    »Ich weiß wirklich nicht …«
    »Dann vielleicht auf einen unverbindlichen Plausch ohne Tonbandgerät, aber mit einem weiteren Mekong Sunset in meinem Restaurant? Sie wissen ja inzwischen, dass das Sok sebai te mir gehört.«
    »Sie sind ein Schelm, das vor mir verheimlicht zu haben. Heißt Sok sebai te vielleicht Schelm?«
    Er lachte. »Es ist die übliche Begrüßung in Kambodscha und heißt ungefähr: Wie geht’s? Passt Ihnen morgen Abend?«
    »Ich habe eigentlich keine Zeit.«
    »Übermorgen?«
    »Eher nicht.«
    Warum nicht? Weil meine Wochenenden ähnlich verliefen wie die Werktage. Was ich an Zeit übrig hatte, weil Behörden verwaist waren und Redaktionen nur mit Notbesetzung arbeiteten, steckte ich in die Erledigung der Korrespondenz, das Bezahlen von Rechnungen, einige wenige private Telefonate und ab und zu in ein paar vergnügliche Stunden mit Freundinnen in einer Pizzeria.
    Letzteres kam allerdings immer seltener vor. Meine Freundinnen waren allesamt Frauen Ende dreißig bis Anfang vierzig mit ein- bis dreijährigen Kindern, welche behütet werden mussten und alle Aufmerksamkeit auf sich zogen. Unsere Gespräche kreisten fast nur noch um Kindernahrung, Kinderkrankheiten, Kinderpsychologen, Kinderbekleidung,

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