Das Nebelhaus
Wann sind Ihre Eltern nach Deutschland gekommen? Sind Sie in Deutschland geboren?«
»Nein, noch in Kambodscha, genauer in Kompong Cham, am Mekong. Aber ich habe kaum Erinnerungen daran, nur ein paar verschwommene Bilder im Kopf, Reisfelder, Dschungelwald, Affen. Ich bin 1972 geboren. Meine Eltern sind 1975 über Vietnam in die DDR geflohen. Die Roten Khmer haben damals die Macht in Kambodscha übernommen. Pol Pot und so weiter.«
»Schrecklich. Warum sind Ihre Eltern nach dem Ende des Terrorregimes der Roten Khmer nicht zurückgegangen?«
»Die Verhältnisse haben sich dort nur sehr langsam gebessert. Die Wirtschaft lag am Boden, die Terrorisierten waren traumatisiert, Pol Pots Anhänger zogen im Hintergrund noch immer die Strippen, weshalb eine Aufarbeitung seitens des Staates nicht stattfand. Ich denke, meine Eltern haben dem Frieden anfangs nicht getraut, und als sie es dann doch taten, war es zu spät, da hatten sie sich bereits in ihrem neuen Leben eingerichtet. Mein Vater hat als Gärtner gearbeitet und Blumen gezüchtet.«
Ich hatte Mühe, das Bild eines Blumen und Gärten liebenden Menschen mit jenem schwer atmenden, mysteriösen Telefonpartner vom Nachmittag in Einklang zu bringen. Ich beschloss, Yim nicht auf mein Erlebnis mit seinem Vater anzusprechen.
»Ich möchte dem Leser gerne eine Vorstellung vom Charakter und Leben Ihrer Mutter vermitteln.«
»Sie hat gerne gekocht, vor allem Fischgerichte, und sie hat oft ausgedehnte Spaziergänge über die Insel gemacht. Am Meer konnte sie sich nicht sattsehen. Manchmal hat sie auch gedichtet.«
»Das ist ja interessant. Kennen Sie ein Gedicht von ihr?«
»Nein, sie hat mir – uns – ihre Werke nie vorgelesen. Als Kind habe ich sie aber ein paarmal überrascht, als sie gerade Gedichte in ein weiß eingebundenes Buch geschrieben hat.«
»Wo ist dieses Buch jetzt?«
»In unserem Haus auf Hiddensee, nehme ich an. Wenn sie es nicht vernichtet hat. Oder mein Vater …«
»Wieso sollte Ihr Vater so etwas tun?«
Yim merkte, dass er etwas Falsches gesagt hatte, oder vielmehr etwas Richtiges, das er besser nicht preisgegeben hätte.
»Ich weiß es nicht. Das war nur so dahingesagt. Wenn Sie wollen, kann ich es suchen, wenn ich nächste Woche zu meinem Vater nach Hiddensee fahre.«
»Damit wäre mir sehr geholfen, vielen Dank.« Ich schwieg einige Sekunden lang, bevor ich in die heikelste Phase des Interviews überging. »Aus welchem Grund hat Ihre Mutter den Job als Haushaltshilfe bei den Nachbarn angenommen? Für eine Frau ihres Alters war es doch gewiss nicht leicht, ein Haus in Schuss zu halten, auf das kleine Kind aufzupassen, dazu die Kocherei. Sie hat doch für das Ehepaar Nachtmann-Lothringer gekocht, oder nicht?«
»Gelegentlich. Eigentlich nur, wenn sie Gäste hatten.«
»Trotzdem macht das viel Arbeit.«
»Ich glaube, sie war zu Hause nicht ausgelastet. Ihr ist die Decke auf den Kopf gefallen.«
»Hat sie das Geld gebraucht?«
Wieder ein kurzes, kaum wahrnehmbares Zögern bei Yim. »Das kann ich mir nicht vorstellen.«
»Wie stand sie zu dem Ehepaar?«
»Sie hat Clarissa, die kleine Tochter der beiden, sehr gemocht. Sie brachte ihr immer etwas zum Naschen mit, kleine süße Reiskuchen zum Beispiel, die sie selbst gebacken hatte. In Clarissas Gegenwart hat sie viel gelächelt.«
»Sonst nicht?«
»Das war nicht ihre Art. Sie hat stets höfliche Distanz zu ihren Mitmenschen gehalten, mich und meinen Vater ausgenommen. Sie redete wenig. Ihre Meinung, zu wem oder was auch immer, behielt sie für sich. Ich weiß nicht, was sie über Vev Nachtmann oder Philipp Lothringer gedacht hat.«
»Was haben Sie über die beiden gedacht? Und über die Gäste jenes Wochenendes, das so furchtbar geendet hat?«
»Über Tote soll man nicht schlecht reden.«
»Nicht alle sind tot. Aber ich habe natürlich Verständnis, wenn Sie nicht über Dritte reden möchten. Können Sie mir sagen, ob Ihre Mutter mit Leonie Korn näher zu tun hatte? Gab es vielleicht eine Auseinandersetzung? Eine Diskussion?«
»Nicht, dass ich wüsste.«
»Und wissen Sie zufällig, ob Ihre Mutter zu Yasmin Germinal oder Timo Stadtmüller näheren Kontakt hatte?«
Er fühlte sich sichtlich unwohl. Nach ein paar Sekunden beschloss er, ärgerlich zu werden. »Es war ein Fehler, mich mit Ihnen zu treffen.«
»Bitte, darf ich Ihnen meinen Ansatz erklären? Ich versuche in meinem Artikel nicht nur das Geschehen zu skizzieren, sondern auch aufzuzeigen, was dazu führte. Dazu muss ich zum
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