Das Nebelhaus
einen das Wochenende Revue passieren lassen und zum anderen die Psychologie der Beteiligten möglichst gut verstehen.«
Yim schüttelte den Kopf. »Jemand ist ausgerastet und hat drei Menschen in den Tod gerissen. Das ist schrecklich, und niemand leidet mehr darunter als ich. Aber es passiert andauernd irgendwo auf der Welt, in Schulen, in Beziehungen, in Elternhäusern, auf der Arbeit, überall.«
»Das ist wahr, und doch hat jeder einzelne Fall seine Besonderheiten.«
»Sie gaukeln Ihren Lesern vor, ihnen erklären zu können, wie es zu den Amokläufen kommt. Das können Sie nicht. Sie werden es nie erklären können, und das wissen Sie ganz genau. Es liegt auch gar nicht in Ihrer Absicht. In Wahrheit soll diese Aufklärungs- und Betroffenheitsmasche doch nur das Reißerische Ihres Artikels verbergen. Ich sehe schon die erste Zeile vor mir: Frau Nan ist der Mörderbande von Pol Pot entkommen, um fünfunddreißig Jahre später einem grausamen Mord auf der beschaulichen Insel Hiddensee zum Opfer zu fallen. Wissen Sie, was? Zünden Sie am Jahrestag eine Kerze an und stellen ein Pappschild dazu, auf dem ›Warum?‹ steht. Das wäre eine ehrlichere Betroffenheit als jene, die Sie mit Ihrem pseudo-psychologischen Geschreibsel an den Tag legen.«
Diese plötzliche Wendung des Gesprächs erwischte mich wie ein kalter Guss. Mit einem Schlag ging mir die Arbeit an dem Artikel gegen den Strich, und ich bereute den Augenblick, als ich den Job angenommen hatte. Seltsam: Andere Hindernisse forderten mich heraus, dieses schreckte mich ab. Ja, es machte mir sogar Angst, ohne zu wissen, warum. Wie ein zuverlässiges Pferd, das seit Jahren alle Hindernisse anstandslos übersprang und plötzlich unerklärlicherweise vor einem Oxer scheute, trat ich den Rückzug an.
Während ich meine Sachen zusammenpackte, wich ich Yims Blick aus, erkannte aber aus den Augenwinkeln, dass er die Hände rang. Ich spürte, dass sein Ausbruch ihm leidtat, und hätte ihm gerne eine Brücke gebaut. Aber eine andere Stimme in mir war stärker: Im Grunde war ich froh, das Interview abbrechen zu können. Einerseits hatte es mit dem »Fall« zu tun, der mir von Anfang an nicht behagt hatte, weil er außerhalb meiner gewohnten Sphäre lag. Es hatte aber auch mit Yim zu tun, mit der Sympathie, die ich für ihn empfand. Sie erschreckte mich mehr, als dass sie mich erfreute.
Gefasst erhob ich mich. »Es tut mir leid, Herr Nan. Ich werde Sie nicht mehr belästigen.«
Im Restaurant, das sich geleert hatte, legte ich einen Zehner auf den Tresen. »Ich zahle einen Cocktail.«
»Sie sind eingeladen«, sagte der Kellner.
»Ich möchte nicht, dass Herr Nan für mich zahlt.«
»Herr Nan wird nicht für Sie zahlen. Herr Nan ist der Inhaber des Restaurants.«
Auf der Rückfahrt gingen mir immer wieder einzelne Sätze oder Wörter durch den Kopf, die im Zusammenhang mit der Blutnacht von Hiddensee gefallen waren. Ich saß am Steuer meines Austin, Baujahr 88, dem ich den Namen Tante Agathe gegeben hatte. Tante Agathe war eine liebgewordene, mit Altersflecken übersäte Seniorin, die nicht mehr so konnte, wie sie wollte, den Lack verlor und bei der geringsten Anstrengung die grauenhaftesten Ächzer von sich gab, aber wundersamerweise jedem TÜV ein Schnäppchen schlug und so dem Tod von der Schippe sprang. Ich war mit Agathes Macken so vertraut wie mit dem Berliner Straßenverkehr und konnte es mir deshalb leisten, in Gedanken an Frau Nan zu versinken.
In dem Boulevardblatt, das mehrseitig über die »Blutnacht« berichtet hatte, war auch ein Bild von Nian Nan abgedruckt gewesen. Während Tausende Lichter der Hauptstadt um mich herumtanzten, stellte ich mir eine stürmische Septembernacht auf Hiddensee vor, sternenlos, mondlos, lichtlos, mit sich biegenden Bäumen, einer tosenden Brandung, dem Wind, der einem wie ein pralles Kissen ins Gesicht schlug.
Mittendrin die zierliche Frau Nan, ganz in Schwarz gekleidet, eingehüllt in Finsternis. Sie wankt zwei Schritte vorwärts, einen Schritt zurück. Sie hat entsetzliche Angst und weiß nicht, wohin. Oder sie ahnt noch nichts. Aus der Dunkelheit tritt eine Gestalt auf sie zu, ein Phantom. Es ist ein furchtbarer Augenblick, die Minute des Todes. Frau Nan sieht die Pistole, wendet sich um. Sämtliche Überlebensreflexe aller Ahnen bis hin zu den Vormenschen kulminieren in einem Angststoß, der sie vorwärtstreibt, gegen den Sturm. Das Adrenalin schießt durch ihren Körper, das Gehirn schaltet auf blankes Überleben.
Weitere Kostenlose Bücher