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Das Nebelhaus

Das Nebelhaus

Titel: Das Nebelhaus
Autoren: Eric Berg
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sehr heiß.«
    Ich stellte den handtellergroßen Rekorder auf den Tisch und bereitete ihn zur Aufnahme vor. Es war zwölf nach neun. Im Grunde war es egal, um welche Uhrzeit ich nach Hause kommen würde, ich würde so oder so nicht gut einschlafen können. Ich nahm immer den ganzen Tag mit ins Bett, ein schlechtes Sandmännchen, dem sich oft der nächste Tag beigesellte. Das war dann ein Dreier der besonderen Art.
    »Frau Kagel?«
    »Herr Nan?«
    Er nahm mir gegenüber Platz. Yim Nan war ungefähr in meinem Alter, um die vierzig, und sah weit weniger asiatisch aus, als ich es von einem Kambodschaner erwartet hätte. Er war fast ein Meter achtzig groß, seine Haut war nur leicht gebräunt wie bei einem Italiener oder Spanier, und seine Augen hatten eine beinahe europäische Form. Lediglich ein feiner exotischer Schwung verriet ihre asiatische Provenienz. Yim trug Bluejeans, ein weißes Hemd und ein legeres schwarzes Sakko. Die vollen schwarzen Haare hatte er in den Nacken gekämmt und leicht gegelt. Mit einem asiatischen Kampfsportlehrer oder einem buddhistischen Abt – wie ich ihn mir anhand seiner Stimme vorgestellt hatte – hatte er äußerlich rein gar nichts gemeinsam, eher schon mit dem Liebhaber aus dem gleichnamigen Film.
    »Ein schönes Restaurant«, sagte ich. »Exotische Bar-Atmosphäre, wirklich gelungen.«
    Höflicher Smalltalk zum Einstieg eines pikanten Interviews war immer gut. Wir mussten über Leben und Tod sprechen, über brutale Gewalt, den Zufall, das Schicksal, den plötzlichen Einbruch eines schreienden Alptraums in die monotone Ruhe des Lebens.
    Er schien genau zu verstehen, was ich vorhatte, und ließ sich darauf ein. »Es gibt drei kambodschanische Restaurants in Berlin, aber dieses hier gefällt mir am besten. Möchten Sie, dass ich Sie bei der Auswahl der Speisen berate?«
    »Danke, aber ich habe bereits gegessen.« Das war gelogen, sah man von dem angetrockneten Rest eines Brötchens ab, aber ich brachte seit Monaten nur wenig herunter. Zu viel Stress, Geldsorgen …
    Der Kellner stellte zwei große Glaskelche, gefüllt mit einer aprikosenfarbenen Flüssigkeit, auf den Tisch.
    »Das muss ein Missverständnis sein«, sagte ich. »Ich hatte einen Kaffee bestellt.«
    »Ich war so frei, uns Cocktails bringen zu lassen«, sagte Yim. »Mekong Sunset. Probieren Sie mal.«
    »Ich muss noch fahren.«
    »Nur einen Strohhalm voll. Geben Sie sich einen Ruck.«
    Da ich nicht ablehnen konnte, ohne meinen Gesprächspartner zu verstimmen, gab ich mir den geforderten Ruck. Der Cocktail schmeckte erfrischend, nicht zu süß und nicht zu alkoholisch, genau das Richtige gegen die schwüle Berliner Augustluft.
    »Sehr lecker.« Damit leitete ich zum eigentlichen Thema über. »Es fällt schwer, bei einem exotischen Cocktail in einem schönen Biergarten mit all diesen bunten Lichtern über die Blutnacht von Hiddensee zu sprechen.«
    Er senkte den Blick. Seine Stimme verlor den positiven, lebensbejahenden Ausdruck. »Würde es Ihnen etwas ausmachen, den Begriff nicht mehr zu benutzen? Es war ein Amoklauf.«
    »Mein Fehler, ein scheußlicher Begriff. Ich bin Ihnen sehr dankbar, dass Sie mir ein wenig erzählen wollen über … nun ja, über alles. Darf ich den Rekorder einschalten?«
    Er nickte traurig, und ich meinte zu spüren, wie heftig sein Herz schlug.
    Yim Nan hatte meine volle Sympathie. Jedes Mal, wenn ich mit Opferangehörigen sprach, sah ich meine Mutter auf dem schwarzen Ledersofa sitzen, gleich neben der geöffneten Terrassentür, von der Sonne angestrahlt. Sie trug ein sportliches pfirsichfarbenes Hemd und weiße Leggings, den Jane-Fonda-Look der Achtziger, und sie schwitzte, als käme sie gerade vom Aerobic. Weder bekam sie ein Wort heraus noch weinte sie, sondern saß einfach nur schief auf dem Sofa, die Hände zwischen den Schenkeln eingeklemmt, und wartete zwanzig Stunden am Tag darauf, dass mein Bruder gefunden wurde. Ganze vier Tage lang.
    Der Mord an Benny hatte mit dem Amoklauf von Hiddensee nicht das Geringste zu tun, die Geschichten ähnelten sich noch nicht einmal. Der Amoklauf war in Teilen noch ein Rätsel, war weder verhandelt noch abgeschlossen. Bennys Tod war es. Für mich als Angehörige war er das jedoch nie, egal ob der Mörder nun verurteilt war oder nicht. Die Geschichte eines solchen Verlustes endet nie, niemals.
    Ich riss mich von meinen Gedanken los und konzentrierte mich wieder auf mein Gegenüber.
    »Gut. Vielleicht erzählen Sie mir zunächst etwas über Ihre Familie.
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