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Das Moskau-Spiel

Das Moskau-Spiel

Titel: Das Moskau-Spiel
Autoren: Christian Ditfurth
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hatte. Doch Petrow wusste auch, dass US – Bomber sich seit einiger Zeit immer wieder dem sowjetischen Luftraum gefährlich näherten. Provoka tionen. Sie testeten die Luftabwehr. Da dürfen die sich nicht wundern, wenn wir schießen. Sie legen es darauf an. Was zu viel ist, ist zu viel.
    Petrow fuhr zusammen, als die Alarmsirene heulte. An der Kontrollwand blinkte in roter Schrift ein Wort: Start. Sie hatten es vorher nie gesehen. Sokolow und Kirow starrten ihn an. Die Farbe wich aus ihren Gesichtern. Kirows Stirn war mit einem Schlag von Schweißperlen übersät. Sokolows Mund stand halb offen. Auf dem Radarschirm ein Punkt, der sich schnell bewegte. Eine Interkontinentalrakete. Richtung Moskau. Eine Minuteman II , deren Sprengkopf durchs All raste.
    Petrow war plötzlich klatschnass am ganzen Körper. Was tun? Die Vorschrift forderte, die Meldung über eine Direktleitung an den Generalstab und Andropow weiterzugeben. Keine Zeit, das Politbüro einzuschalten oder gar den Obersten Sowjet. Die Militärführung würde binnen weniger Minuten allein entscheiden müssen, ob die Interkontinental- und Mittelstreckenraketen der Sowjetunion, land- und seegestützt, gestartet werden sollten, um die einprogrammierten Ziele in den USA und Westeuropa zu vernichten, damit das Territorium der Feindstaaten in ein verstrahltes Trümmerfeld verwandelt wurde, in dem auf Jahrhunderte niemand würde leben können. Die Vorschrift verlangte, die eigenen Raketen zu starten, bevor der Feind sie zerstören konnte. Bevor die Sowjetunion vernichtet und wehrlos war.
    Petrow nahm den Telefonhörer, hielt ihn eine Weile in der Hand, dann legte er wieder auf. Sokolow beobachtete, was Petrow tat, sagte aber nichts. Er hätte angerufen, was sonst? Kriegsgericht?
    Aber Petrow dachte: Wenn der Feind angriff, dann doch nicht mit einer einzigen Rakete, die zwangsläufig den tödlichen Gegenschlag auslösen musste. Nein.Selbstmord würden die Imperialisten nicht begehen. Das war ein Fehlalarm. Wenn er nach Moskau meldete, was seine Augen sahen, würde Panik herrschen. Panik war ein gefährlicher Berater. Der Weg in den Tod.
    Sie starrten. Endlich verschwand der Punkt vom Schirm. Petrow schnaufte durch und schaltete die Sirene aus.
    Sokolow und Kirow starrten ihn immer noch an. Sokolow wischte sich mit dem Ärmel über die Stirn.
    »Fehlalarm«, flüsterte Petrow.
    Kirow lachte, etwas zu laut. Sokolow prustete.
    Petrow überlegte, wie er die Meldung über diesen Vorfall abfassen konnte, ohne in Teufels Küche zu kommen. Er habe sofort erkannt, dass es ein Satellitenfehler gewesen sei. Kein Grund, die Führung zu alarmieren. Kein Grund, Unruhe zu schaffen. Wir haben Wichtigeres zu tun.
    Wir schützen die Sowjetunion.
    Er wusste natürlich, dass nicht nur er über diesen Vorfall berichten würde. Selbstverständlich arbeitete einer der Genossen im Bunker für die GRU , den Geheimdienst der Sowjetarmee.
    Die Sirene. Wieder die Sirene. Wieder ein Punkt auf dem Schirm. Sokolow und Kirow zuckten zusammen. Petrow erstarrte.
    Er zwang sich, ruhig zu bleiben. In Windeseile durchdachte er alle Möglichkeiten, die in den Vorschriften standen und die ihm seine Fantasie vorschlug. Er schaute auf den Punkt, und als auch der verschwand, schaltete er die Sirene aus und nahm den Telefonhörer, um einen Fehlalarm nach Moskau zu melden. Kaum hatte er den Hörer in der Hand, heulte es wieder und dann noch zwei Mal. Fünf Raketen.
    Wenn er fünf Raketen meldete, mindestens fünf Raketen, wie hoch war die Wahrscheinlichkeit, dass die Führung den Gegenschlag auslöste? Er stellte sich die erregte Debatte im Generalstab vor. Wer hatte dort gerade Dienst? Wer entschied wirklich? Fünf Atomraketen würden Moskau pulverisieren. Kaum Zeit, sich in die Bunker zu flüchten. Der Enthauptungsschlag, der die Sowjetführung ausschaltete. Der gigantische elektromagnetische Impuls, der alle Kommunikations- und Überwachungseinrichtungen lähmte.
    Petrow konnte nicht übersehen, was der Bildschirm ihm zeigte. Was, verdammt, sollte er tun in diesem Augenblick, in dem der Wahnsinn den teuflischen Beschluss gefasst hatte, dass er, Oberstleutnant Stanislaw Jewgrafowitsch Petrow, über das Schicksal der Erde entschied? Er, der heute gar nicht hier sein sollte, sondern einen kranken Genossen vertrat. Petrow dachte an seine Mutter, die in einer ärmlichen Datscha am Ostrand von Moskau hauste, an den Vater, der an Spätfolgen einer Kriegsverletzung unter unerträglichen Schmerzen zugrunde gegangen
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