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Das Moskau-Spiel

Das Moskau-Spiel

Titel: Das Moskau-Spiel
Autoren: Christian Ditfurth
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rätselhafte wie wissenschaftlich bewiesene Phänomen: die Ausschaltung des Feindes, indem man alle Elektronik auf einen Schlag zerstörte. Da säßen dann die Führer der mächtigen Sowjetunion in ihrem Bunker, und sie würden nichts erfahren von dem, was außerhalb ihrer Betonfestung vor sich ging, und sie konnten niemanden dort draußen mehr erreichen und niemandem mehr etwas befehlen. Bis Verbindungen wiederhergestellt wären, bis die Raketenstreitkräfte den Gegenschlag einlei ten könnten, wäre es zu spät, weil die USA bis dahin die Raketensilos und Bomber zerstört hätten. Er sah Men schen vor sich, die Mutter, die Schwester, die Verkäuferin in dem Laden, die ihm gestern verschämt zugelächelt hatte, den Jungen, der mit einem fast luftleeren Fußball die Fensterscheibe des Schuppens zerschossen und mit dem Petrow einen unausgesprochenen Schweigepakt geschlossen hatte, bekräftigt nur durch ein Blinzeln mit beiden Augen, was der Kleine erst mit einem Staunen und dann mit einem strahlenden Lächeln quittiert hatte. Überhaupt die schreienden, lachenden, plärrenden und sich prügelnden Kinder auf dem Schulhof in der Nachbarschaft, welche die sowjetische Disziplin erst noch lernen mussten. Die alten Frauen, die mühsam die Bürgersteige entlanghumpelten und immer eine Tasche trugen. Die Veteranen, die ihre Orden vom letzten Krieg stolz herzeigten, weil sie außer dem Stolz und der jährlichen Parade nichts bekommen hatten. Die schö nen jungen Frauen, die im GUM nach Kleidern such ten und zu oft unzufrieden wieder nach Hause gingen. Sie und alle anderen würden zerfetzt und zu Asche verbrannt und vom Feuersturm über die Todesäcker verbreitet, die einmal Städte gewesen waren. Petrow hatte Dokumentarfilme über die Atombombenabwürfe über Hiroshima und Nagasaki gesehen, und er wusste, dass jeder einzelne Sprengkopf unter den vielen Tausenden Mehrfachsprengköpfen, die von den Raketen fast punktgenau ins Ziel befördert wurden, ungleich größere Zerstörungen anrichten würde als die beiden Bomben über Japan.
    Er drückte die Zigarette aus und linste auf den Bildschirm vor sich. Flimmernde weiße Schrift auf dunkelgrauem Hintergrund. Wenn er die Schrift lange anstarrte, bekam er Kopfschmerzen.
    23 Uhr 57, 25. September 1983, zeigte die Uhr auf dem Schreibtisch an.
    Er zündete sich eine weitere Zigarette an, stand auf und ging eine Runde. So, wie er es jedes Mal um diese Zeit tat, wenn die Müdigkeit nach ihm griff. Er schaute sich um, wie seine Leute die Zeit totschlugen. Hauptmann Sokolow, sein Stellvertreter, las wie immer in einem Roman, aber mit einem Auge verfolgte er denComputerbildschirm vor seiner Nase. Lesen im Dienst widersprach den Vorschriften, doch Sokolow hielt sich so wach, ohne seine Aufgabe auch nur eine Sekunde zu vernachlässigen. Leutnant Kirow, der Computerexperte, bearbeitete seine Tastatur. Kirow war ein brillanter Kopf, viel zu schade fürs Militär. Viel zu klug, um in einem muffigen Bunker herumzusitzen. Petrow schaute Kirow über die Schulter, aber er konnte nichts anfangen mit den kryptischen Befehlen, die der Leutnant in den Computer eingab.
    Die Tür zum Nebenraum war angelehnt. Dort saßen vier Soldaten, bewaffnet mit AK – 47-Sturmgewehren, die den Bunker zu bewachen hatten. Um den Bunker herum war ein Stacheldrahtverhau, der oben und in der Mitte von einem Starkstrom leitenden Draht gesichert wurde. Am Tor standen zwei Soldaten. Vier weitere patrouillierten in Zweierstreifen entlang des Zauns. Zu viel für einen einsamen Bunker südlich von Moskau. Zu wenig, um ein gut geplantes Kommandounternehmen des Feindes abzuwehren. Wenn es dem gelang, unbemerkt in den Luftraum einzudringen, was als unmöglich galt. Allerdings hatte Petrow da seine Zweifel. Das Radar reichte nicht weit genug. Wenn es Raketen im Flug anzeigte, war es für eine Reaktion fast schon zu spät. Es blieben nur Minuten. Deshalb hatten sie das Satellitenfrühwarnsystem gebaut, das die US – Atomraketenbunker vierundzwanzig Stunden am Tag überwachte. Seitdem hatten sie nicht mehr zwölf Minuten Zeit, auf einen Raketenangriff zu reagieren, sondern eine knappe Viertelstunde länger. Milliarden von Rubeln für eine knappe Viertelstunde.
    Vor drei Wochen hatte die Luftwaffe dieses südkoreanische Spionageflugzeug über Sachalin abgeschossen. Vielleicht war es doch eine Passagiermaschine auf Irrwegen gewesen, wie die Propaganda des Westens behauptete, die Petrow in den stark gestörten Radiosendungen gehört
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