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Das Monster von Bozen

Das Monster von Bozen

Titel: Das Monster von Bozen
Autoren: Burkhard Rüth
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sich vor allem die Dolomiten und die Sarntaler Alpen erschlossen. Doch heute war er mal wieder im Ahrntal, weil er mit Hans in der Hütte unterhalb des Schwarzensteins verabredet war – und dafür musste er erst diese vermaledeite Felswand hinter sich bringen.
    Zurück konnte er auf keinen Fall. Wenn er schon fast nicht hinaufkam, dann ging hinunter erst recht nicht. Und vor ihm lag, wie er erst jetzt entsetzt bemerkte, eine weitere, fast glatte Wand, noch etwas stärker überhängend. Durch sie war ein Drahtseil gelegt. Für die Füße gab es in beängstigend großen Abständen Eisenstifte, die in den Fels gerammt waren, natürliche Tritte und Griffe fehlten völlig. Erneut stieg Panik in ihm auf. Wäre wenigstens Hans hier!
    Als Hans mit ihm das Begehen ausgesetzter Klettersteige geübt hatte, war es ihm viel leichter gefallen. Das lag an Hans’ Fähigkeiten als Bergführer und seiner natürlichen Art. Er strahlte Ruhe und Souveränität aus, und trotz seiner Erfolge und seines physischen Leistungsvermögens war er ein zugänglicher, einfühlsamer Mensch geblieben. Niemals sprach er verächtlich über Leute, die ihre Grenzen schon bei einem Spaziergang auf dem von vielen Bergbahnen erschlossenen Kronplatz erreichten. Deshalb fühlte Vincenzo sich in seiner Gegenwart sicher.
    Sie hatten sich vor einigen Jahren bei einem Vortrag über Hans’ Expeditionen in den Himalaya kennengelernt. Seitdem trafen sie sich gelegentlich, wenn Hans nicht gerade wieder irgendeinen Achttausender bestieg, um zusammen eine Tour zu machen. Heute wollten sie den Schwarzenstein besteigen, fast dreitausendvierhundert Meter hoch. Mein Gott, was hatte er getönt: »Hans, plan mal was Anspruchsvolleres, einen Klettersteig, gerne mit größeren Höhenunterschieden! Ich möchte meine Grenzen kennenlernen.«
    Jetzt lernte er sie kennen. Und wie! Es war totenstill. Außer ihm war an diesem Vormittag niemand in der Wand, keine Stimmen, nichts. Niemand, der ihm sagte: Du schaffst das schon . Selbst die Krähen, die es in dieser Höhe gewöhnlich zuhauf gab, schienen vor der schwülen Hitze zu kapitulieren. Er fühlte sich einsam, verlassen und ausgeliefert. Aber es half alles nichts, er musste weiter. Vincenzo sah an der Wand entlang. Nach Hans’ Beschreibung müsste es danach einfacher werden. Noch eine senkrechte Leiter, dann sollte er den Zugang zur Hütte erreichen, wo Hans, der dort übernachtet hatte, bestimmt schon ungeduldig auf ihn wartete.
    Er atmete ein paarmal tief durch, dann klinkte er den ersten Karabinerhaken ein. Misstrauisch trat er auf den ersten Eisenstift, der nicht den Eindruck erweckte, einen ausgewachsenen Mann von einem Meter fünfundachtzig und neunzig Kilogramm tragen zu können.
    Doch der Stift hielt! Er zog den anderen Fuß nach und trat auf den nächsten Stift. Durch den Überhang wurde sein ganzer Körper wie von einer fremden Macht nach hinten gedrückt, in die Tiefe. Der Rucksack auf seinem Rücken tat ein Übriges, die zehn Kilogramm kamen ihm vor wie hundert. Mit aller Kraft musste er sich am Drahtseil an die Wand ziehen, damit sich sein Schwerpunkt nicht bedrohlich in Richtung Abgrund verlagerte. Die Muskeln seiner Unterarme waren bretthart, und trotz all seiner Klimmzüge und Liegestützen fürchtete er, die Kraft in den Händen zu verlieren.
    Jetzt erst kam die größte Herausforderung. Auf einem einzigen Nagel stehend, das andere Bein frei in der Luft, musste er seine Karabinerhaken irgendwie um die nächste Öse bringen. Mit zitternder Hand löste er den ersten Karabiner vom Drahtseil und führte ihn, balancierend wie ein Hochseilartist, an der Öse vorbei. Dabei zog er sich mit der freien Hand mit aller Kraft zur Wand, um nicht nach hinten wegzukippen. Er hatte das Gefühl, als könnte sein Unterarm jeden Moment platzen. Unter dem Steinschlaghelm lief ihm der Schweiß in die Augen, die sofort zu brennen anfingen. Für einen Moment glaubte er, das Gleichgewicht zu verlieren. Nur mit angehaltenem Atem und höchster Konzentration gelang es ihm, den Karabinerhaken wieder einzuklinken.
    Erleichtert trat er mit dem freien Fuß auf den nächsten Nagel. Jetzt noch zweimal die Karabiner umklinken, dann hatte er das Schlimmste hinter sich. Wenig später erklomm er die fünfzig Meter lange senkrechte Leiter, vor der ihm vor seinem Aufbruch noch so gegraut hatte. Jetzt erschien sie ihm merkwürdig harmlos. Er erreichte den ebenen Pfad zur Hütte, die wenig später vor ihm auftauchte. Er hatte es
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