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Das Monster von Bozen

Das Monster von Bozen

Titel: Das Monster von Bozen
Autoren: Burkhard Rüth
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Prolog
     
    Köln, Oktober, elf Jahre zuvor
     
    Sie stand lange am Grab ihres Mannes. Sie hatten davon geträumt, ihre gemeinsame letzte Ruhe auf einem kleinen, stillen Waldfriedhof zu finden. Aber sie waren zu jung gewesen, um sich ernsthaft mit dieser Frage auseinanderzusetzen. Sie hatten noch so viel vorgehabt. Helmuts Tod hatte allen Zukunftsplänen ein jähes Ende bereitet. Jetzt war er auf einem Waldfriedhof beerdigt, so, wie er es sich gewünscht hatte.
    Eine schmale Zufahrt führte durch Wiesen und Felder zu einem kleinen Parkplatz, eine Rasenfläche, auf der höchstens zehn Autos Platz fanden. Dahinter begann ein dichter Buchenwald. Das Laub war bunt gefärbt, der Wald sah aus wie vergoldet. Wie oft war sie den Weg zu seinem Grab schon gegangen. Er führte fünfzig Meter geradeaus, dann machte er einen Linksknick. Dahinter öffnete sich der Wald in eine kleine Lichtung. Dort erstreckte sich der Friedhof, den man durch ein schlichtes Holztor betrat. Das Grab, das irgendwann auch ihre letzte Ruhestätte sein würde, lag hinten links, ganz am Ende, bevor sich der Wald wieder schloss.
    Heute war ein Herbsttag wie aus dem Bilderbuch. Schleierwolken kündigten einen Wetterumschwung an, doch noch war es mild und fast windstill. Die Luft war erfüllt von einem leicht modrigen, erdigen und zugleich würzigen Geruch. Solche Stimmungen hatten sie beide geliebt. Er würde das nie wieder mit ihr teilen können. Tränen rannen ihr über die Wangen. All das wegen eines einzigen Ausrutschers.
    Auf einem Kongress hatte er zu viel getrunken und war dem Charme einer Studentin erlegen. Er hätte es ihr sagen können, sie hätte es ihm verziehen. Sie liebte ihn viel zu sehr, um ihn wegen so etwas zu verlassen. Aber er hatte Angst gehabt und sich zutiefst geschämt. Irgendjemand hatte zudem seinen Fehltritt mitbekommen, »Beweisfotos« geschossen und ihn damit erpresst. Sie wusste bis heute nicht, worum es gegangen war, jedenfalls nicht allein um Geld. Das hatte sie seinem Abschiedsbrief entnommen, der vor ihm auf dem ovalen Glastisch gelegen hatte.
    Sie würde diesen Anblick und dieses Gefühl niemals vergessen. Helmut hatte keine äußerlichen Verletzungen, er sah aus, als würde er schlafen. Halb sitzend, halb liegend, den Kopf auf der Brust. So hatte er immer ausgesehen, wenn er beim Fernsehen eingenickt war. Als sie ihn berührte, wusste sie, dass er nicht schlief. Er hatte sich mit Tabletten das Leben genommen. Auf dem Tisch stand eine leere Cognacflasche, damit hatte er seine Angst betäubt.
    Die Polizei fand nie heraus, wer der Erpresser war. Aber er hatte bei Helmut kaltblütig die richtigen Knöpfe gedrückt. Vermutlich hatte er nicht nur damit gedroht, sie zu informieren, sondern auch den Ausschuss.
    Das alles war nun ein Jahr her. An keinem Ort war sie seitdem häufiger gewesen als an Helmuts Grab. Doch das Gefühl von Trauer und Verzweiflung, aber auch der unbändige, gefräßige Hass auf den Erpresser wurden nicht schwächer. Sie spürte es jeden Tag wie am ersten.
    Langsam ging sie den Weg zurück, vorbei an den anderen Gräbern, in denen andere Menschen mit anderen Schicksalen lagen. Sie wischte sich mit dem Handrücken die Tränen aus dem Gesicht. Als sie aus dem Wald auf den Parkplatz trat, blies ihr eine kalte Windböe aus Nordwesten entgegen. Es würde nicht mehr lange dauern, bis der Regen kam.

1
     
    Südtirol, Ahrntal, Samstag, 6. Juni 2009
     
    Obwohl Vincenzo Bellini es besser wusste, konnte er nicht anders. Immer wieder musste er hinunterblicken in die scheinbar unendliche Tiefe. In manchen Momenten spürte er überdeutlich das Verlangen, einfach nur loszulassen, angezogen von ihrem mächtigen, unentrinnbaren Sog.
    Er war in aller Frühe aufgestanden, hatte seinen Rucksack gepackt und war losgefahren. Allein von Bozen bis nach Sankt Johann hatte er mit seinem Alfa eine gute Stunde gebraucht, zum Glück brach das Verkehrschaos im Pustertal erst viel später aus. Gegen sechs hatte er seine Tour begonnen. Am Anfang war der Weg technisch anspruchslos, aber lang und steil. Über das kleine Sträßchen bis zum Stalliler, dann weiter über den Hauptwanderweg mit der Nummer 23. Allein auf diesem Stück hatte er über sechzehnhundert Höhenmeter überwunden. Ihm war bewusst, dass das schon eine beachtliche konditionelle Leistung war. Zumal er mehr als zehn Kilogramm auf dem Rücken trug.
    Das Schwierigste lag zu diesem Zeitpunkt aber noch vor ihm. Gegen zehn war er in den Klettersteig eingestiegen, um zwölf
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