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Die dunkle Treppe

Die dunkle Treppe

Titel: Die dunkle Treppe
Autoren: Helen Fitzgerald
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    Die Chancen standen fünfzig zu fünfzig. Meine Mutter hatte es gehabt, und als sie gestorben war, hatte sie in einer Pfütze aus Sabber gelegen. Es stand fünfzig zu fünfzig für Ursula und mich. Über das Geschenk zu unserem achtzehnten Geburtstag – für sie noch in diesem Jahr, für mich in vier Jahren – würde eine imaginäre Münze entscheiden: Kopf oder Zahl.
    Ich wollte Ursulas Hand nehmen, als wir über den Parkplatz in Richtung Krankenhaus gingen, aber sie schüttelte sie ab. Danach erinnere ich mich nur noch an Gänge – Hunderte von Gängen, die zu Hunderten weiterer Gänge führten. Und ich erinnere mich daran, dass ich stundenlang in einem Wartezimmer saß, während Ursula und Papa über mögliche Untersuchungsergebnisse sprachen, und ich erinnere mich auch noch daran, wie Ursula mit weit geöffneten Armen aus einem Zimmer gerannt kam und von einem Ohr zum anderen strahlte. Ich umarmte sie, und wir wirbelten gemeinsam durch den Raum. Die schöne Ursula. Sie würde nicht so von uns gehen wie unsere Mama: jahrelang vor sich hin vegetierend, launisch und vergesslich, mit vierzig von der Krankheit dahingerafft.
    ***
    Als wir an jenem Nachmittag zurück nach Hause fuhren, senkte sich die Finsternis über mich. Ich war überzeugt davon, dass Ursulas Testergebnisse nichts Gutes für mich verhießen. Papa sagte mir, das sei Unsinn, aber ich glaubte ihm nicht. Ich glaubte, dass einer von uns beiden die Krankheit bekommen würde, und wenn es nicht Ursula war, dann war ich es.
    Damals war ich vierzehn, und von jenem Tag an dachte ich an nichts anderes als den Tod. Jahrelang trat ich auf der Stelle. Statt das normale Leben eines Teenagers zu leben, starrte ich wie hypnotisiert auf eine imaginäre Münze, die in Zeitlupe zu Boden fiel.
    Die Fahrt nach Kilburn bot das übliche Panorama: flaches, trockenes Land links und rechts der Autobahn. Langweilig. Tausende röhrender Riesenlaster überholten mit viel zu hoher Geschwindigkeit kleine Familienautos. Auf den ausgedörrten Feldern standen verhungert aussehende Schafe herum, und mindestens zwei platt gefahrene Tiere lagen am Straßenrand. Der Stadtrand von Kilburn begrüßte uns mit einem Bestattungsunternehmen, einem Friedhof und den quiekenden Schweinen der Schinkenfabrik, die am Ende unserer Straße lag. Und dann war da die Finsternis, die sich langsam über mich senkte. Die unerbittlich in mich einsickerte.
    Ich verpasste viel in diesen vier Jahren.
    Ich bin niemals mit der Achterbahn im Lunapark gefahren.
    Ich habe niemals einen Jungen geküsst, weil ich mich in ihn verguckt hatte.
    Ich habe mich niemals an einer Universität beworben.
    Ich habe niemals meine Unschuld verloren.
    Ich war so gut wie tot.
    ***
    Drei Wochen nach meinem achtzehnten Geburtstag fuhren wir nach Melbourne. Ich glaubte, den Todestrakt eines texanischen Gefängnisses entlangzulaufen. Anstelle gelbbrauner Felder sah ich das Stahlgrau der Zellen. Mein Vater war der Priester, der einen Schritt vor mir ging und Gebete herunterratterte. Ursula war die schweigsame Wärterin; sie war mit Handschellen an mich gefesselt und sah starr geradeaus. Ohne Gegenwehr näherte ich mich dem Raum, in dem mein Leben enden würde. Ich ließ es einfach geschehen. Als ich einen Blick in den Außenspiegel warf, bemerkte ich, dass ich Cheesles aß. Warum wird eigentlich immer so viel Gewese um die Henkersmahlzeit gemacht? Ich lutschte den schmierigen, orangefarbenen Belag vom Reismehlring.
    Solange ich denken konnte, war Dr. Gibbons ein Teil meines Lebens gewesen. Kein guter Teil. Obwohl er freundlich und sanft war, der alte Doktor, symbolisierte er für mich doch Spritzen und Särge, und wann immer seine füllige Gestalt auftauchte, erfasste mich eine Welle des Schreckens. Als er mir jetzt Blut abnahm, war meine Angst schlimmer denn je. Er stellte mir allerlei Fragen und ließ mich verschiedene Formulare unterschreiben. »Zwei bis drei Wochen«, sagte er. »Ich rufe dann an.«
    »Kann ich ein paar Minuten allein sein?«, fragte ich.
    »Selbstverständlich.«
    »Ich brauche nur ein bisschen frische Luft.«
    Mit diesen Worten ließ ich Dr. Gibbons, Papa und Ursula im Behandlungsraum zurück und ging die Treppe hinab ins Freie. Vor unserem Auto blieb ich kurz stehen und schrieb eine Nachricht. Ich klemmte den Zettel unter den Scheibenwischer und überquerte die sechsspurige Straße.
    Als ich mich durch den träge dahinfließenden Verkehr schlängelte, merkte ich, dass die Dunkelheit sich ein wenig gelichtet
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