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Das Monster von Bozen

Das Monster von Bozen

Titel: Das Monster von Bozen
Autoren: Burkhard Rüth
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waren sie auf der Schwarzensteinhütte verabredet. Seit seiner Kindheit war er zu jeder Jahreszeit in den Bergen. Er liebte sie, sie waren seine Heimat. Aber fürs Klettern hatte er sich nie erwärmen können. Bis er Hans kennenlernte.
    Hans Valentin war Bergführer und Inhaber einer Alpinschule in Sand in Taufers. Er war Anfang fünfzig und hatte im Laufe seiner Bergsteigerkarriere die meisten Achttausender bestiegen, einige zusammen mit Reinhold Messner. Die Berge und die Herausforderungen des Extremkletterns waren sein Leben. Selbst vor den brutalsten Touren, die für gewöhnliche Bergsteiger unerreichbar waren, schreckte er nicht zurück. Er hatte das Matterhorn innerhalb von nur vierundzwanzig Stunden viermal bestiegen, jedes Mal auf einer anderen Route. Je mehr er Hans zugehört hatte, umso mehr wollte er ihm nacheifern, hinauf in schwindelerregende Höhen, auf immer schwierigeren Routen. Auf einmal hatte ihn der Ehrgeiz gepackt.
    Und was hatte er jetzt davon? Mutterseelenallein hing er in dieser verdammten Wand. Blanker Fels, so weit das Auge reichte. Als er am Fuß des Steigs die Klettersteigausrüstung angelegt hatte und nach oben schaute, hatte er sich nicht vorstellen können, diese Wand jemals zu durchqueren. Trotzdem war er losgegangen. Er wollte sich vor Hans keine Blöße geben. Zunächst kam er noch problemlos voran. In den Wandeinstieg war eine kleine Spur gesprengt, es gab jede Menge Sicherungen. Doch bald kam er ohne schwindelerregende Kletterei nicht mehr weiter.
    Dazu diese schwüle Hitze, unter der das Land seit Tagen litt. Er befand sich in einer Westwand, daher war es in den Vormittagsstunden wenigstens noch schattig. Aber allmählich kroch die Sonne um den Berg herum und schien mitten in den Steig. Obschon auf über zweitausend Metern Höhe, wurde es unerträglich warm. Kein Lüftchen regte sich, die helle Felswand reflektierte das Sonnenlicht zusätzlich. Er kam sich vor wie in einem Brutofen.
    Er zwang sich, nicht mehr nach unten zu schauen, löste den ersten der beiden Karabinerhaken. Während er sich mit der rechten Hand krampfhaft an der Öse festklammerte, durch die das Drahtseil gelegt war, führte er mit der anderen den Haken vorsichtig an der Öse vorbei. Er konnte nur auf den Zehenspitzen stehen, denn die Wand bot kaum noch natürliche Tritte und Griffe. Endlich gelang es ihm, den Karabinerhaken wieder einzuklinken. Er wiederholte die Prozedur mit dem zweiten Haken. Das war das Ärgerliche. Man musste grundsätzlich mit zwei Karabinern gehen, weil man sonst in den Momenten, in denen man den Haken ausklinkte und um die Ösen im Fels führte, ungesichert war. Das kostete Zeit und Kraft.
    Er blieb stehen, bis sich sein Puls wieder beruhigt hatte. Dann zog er sich vorsichtig an dem Drahtseil entlang. Anstatt seinen Blick starr vor sich auf den Fels zu richten, ließ er ihn immer wieder zwanghaft dem Sog der Tiefe folgen. Die Neigung der Wand überschritt jetzt neunzig Grad, ein Überhang. Er erinnerte sich an den Moment, als er das erste Mal mit Hans vor einem Überhang gestanden hatte. Damals hatte er gelacht, als Hans ihm in seiner unnachahmlichen Art erklärte: »Ein Überhang ist ein Stück einer Route, deren Steilheit über das Senkrechte hinausgeht.« Jetzt lachte er nicht mehr, denn er konnte nicht einmal seine eigenen Füße sehen. Da war nur noch die Tiefe, wie ein riesiger Schlund. Ihm wurde schwindelig. Gleichzeitig überfiel ihn ein Brechreiz, seine Beine fühlten sich an wie Watte. Er hatte das Gefühl, im nächsten Moment den Halt zu verlieren. Wie sollte er jemals heil wieder nach Hause kommen?
    Doch da, vor ihm, ein größerer Tritt im Fels! Endlich. Dort würde er freihändig stehen und sich wenigstens einen Augenblick ausruhen können. Er hatte durch seine Touren und Bergläufe eine ausgezeichnete Kondition. Aber das hier war etwas völlig anderes. Diese Kombination aus Ausdauer, Kraft und Konzentration, das kannte er nicht. Dazu diese Hitze. Und die Angst. Er überwand sich weiterzugehen, ohne nach unten zu blicken, Schritt für Schritt. Nach einer Minute, die ihm vorkam wie eine Ewigkeit, hatte er endlich wieder festen Boden unter beiden Füßen. Vorläufig.
    Vincenzo Bellini war Commissario in der Questura di Bolzano und lange nicht mehr im Ahrntal gewesen. Bevor er nach Bozen versetzt wurde, hatte er in der Questura in Brixen gearbeitet. Von dort aus war das Pustertal mit seinen Nebentälern schnell erreichbar, aber seit er in Sarnthein bei Bozen lebte, hatte er
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