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Das Missverstaendnis

Das Missverstaendnis

Titel: Das Missverstaendnis
Autoren: Irene Nemirovsky
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aufgestört haben könnte. Sie wandte sich ab, um zu gehen; da war er plötzlich neben ihr; auf ihrem nackten Arm spürte sie seine heiße Hand.
    »Gehen Sie nicht, gehen Sie nicht«, stammelte er, ohne recht zu wissen, was er sagte, »ich bitte Sie …«
    Dann rief er auf einmal fast zornig:
    »Wo waren Sie denn den ganzen Tag?«
    Kleinlaut erwiderte sie:
    »In Biarritz.«
    Und mit einer merkwürdig tiefen, intuitiven Einsicht in das, was er gelitten haben mußte, fügte sie hinzu:
    »Dort verbringt meine Mutter ihre Sommerferien…«
    Ein kurzes Schweigen folgte. Im ungewissen Licht der Sterne konnte sie sein gequältes Gesicht erkennen, seinen gefährlichen und zärtlichen Mund, seine bittenden Augen.
    Plötzlich legte sie die Arme um seinen Hals. Sie küßten sich nicht; sie blieben stehen, einer an den anderen gepreßt, erschüttert, mit pochenden Herzen, erfüllt von wohliger Schwermut.
    In einer unwillkürlichen, zeitlosen Geste vergrub er seinen Kopf an ihrer Schulter, und sie streichelte schweigend seine Stirn und hatte auf einmal Lust zu weinen.
    Nah bei ihnen brandete das Meer mit seinen freien und wilden Wellen an den Strand; von Spanien her wehte der Wind leise Musik zu ihnen herüber; die alte Erde bebte, beseelt von der verwirrenden, geheimnisvollen Nacht.
    Langsam, zögernd lösten sie ihre Umarmung. Er stand halbnackt vor ihr, in der Badehose; im vagen Licht erfaßte ihr Blick nur den Umriß seines hochgewachsenen männlichen Körpers. Sie hatte ihn schon hundertmal so gesehen; doch erst an diesem Abend wurde sie sich – wie einst Eva – darüber klar, daß er nackt war. Sie schämte sich und hatte Angst wie ein junges Mädchen, stieß ihn leicht zurück, kletterte den Damm hinauf und verschwand in der Nacht.
    Er wagte es nicht, so spärlich bekleidet ins Hotel zurückzukehren; da erinnerte er sich daran, daß er als Kind oft am Strand geschlafen hatte. Er wickelte sich in sein Handtuch, schmiegte sich in eine Sandkuhle und fiel in einen leichten, fiebrigen Schlaf, unterbrochen von Träumen voller Gesang und den Gerüchen des Meeres.

7
    W ie jeden Abend trat Denise an Francettes Bettchen. Mit dem Daumen im Mund reiste das Kind im Reich des Sandmännchens umher; an seinem kleinen Hals war im weichen Schatten eine rosarote Falte zu erkennen, die wie eine Halskette wirkte; das Mädchen ähnelte einem zarten, warmen Vögelchen, das, den Kopf in die Federn gesteckt, friedlich schlummert.
    Denise beugte sich über sie, um sie zu betrachten. Immer wieder erinnerte sie sich mit verblüffender Deutlichkeit an die Zeit, als sie selbst in kleinen Betten wie diesem geschlafen hatte. Doch nun staunte sie zum erstenmal über den Weg, den sie seitdem zurückgelegt hatte; er war ihr kurz vorgekommen aufgrund seiner Eintönigkeit, seiner angenehmen Leichtheit. Und doch stand sie bereits im Sommer ihres Lebens … Sie legte ihren Kopf mit den kurzen Locken neben Francettes zerzausten Schopf auf das Kissen, schloß die Augen und ließ die Erinnerungen in sich aufsteigen … Die Kindheit – all diese hellen Tage, glückliche Ferien und die kleinen kindlichen Kümmernisse, deren Andenken mit den Jahren, Gott weiß warum, teurer wird als das der Freuden … Die Jugend, verdüstert und geadelt durch den Schatten des Weltkriegs … Die Verlobung … Die Heirat, eine echte französische Heirat aus Neigung und Vernunft, und die Mutterschaft – ein schönes und gutes Leben, in dem alles in bester Ordnung war … Und doch fühlte sie sich an diesem Abend unbefriedigt, enttäuscht, und ihr armes Herz war so unruhig …
    Sie richtete sich auf, ging ans Fenster, trat auf den schmalen, mit Blumen bepflanzten Holzbalkon hinaus; sie verströmten einen angenehm frischen, bitteren Duft. Die Sommernacht war von einem sanften Leuchten erfüllt … Dort unten lag der kleine verlassene Strand, gegen den das Meer anbrandete, dort hatte Yves auf sie gewartet, hatte mit ihr gesprochen … Diese kurze, köstliche Stunde hatte so sehr einem Traum geglichen, daß sie sich fragte, ob sie sie wirklich erlebt hatte; es gelang ihr nicht, den eigenartigen Eindruck von Unwirklichkeit zum Verschwinden zu bringen. Und dann veränderte sich etwas, ganz allmählich … Während sie dort in der Dunkelheit stand, von den Düften der Nacht umweht, verblaßte die Gegenwart, indessen sich die Erinnerung verstärkte und wie eine Flutwelle in ihrem Herzen, ihrem Körper aufstieg. Mechanisch streckte sie die Hände aus, wie um die Konturen des umarmten
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