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Das Missverstaendnis

Das Missverstaendnis

Titel: Das Missverstaendnis
Autoren: Irene Nemirovsky
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rechts nach links und von links nach rechts, wie eine Marionette. »Nein.«
    »Wo ist sie?«
    »Sie ist weggefahren.«
    »Für lange?«
    »Hm, ich weiß nicht.«
    »Doch, das weißt du, denk nur mal nach«, sagte Yves mit sanftem Drängen. »Deine Mama hat es dir doch sicher gesagt, bevor sie weggefahren ist … Als sie dich heute morgen umarmt hat, hat sie da nicht gesagt: ›Leb wohl, meine Kleine, sei schön brav, ich komme bald wieder, bald … morgen schon … oder übermorgen‹? … Hat sie das nicht gesagt?«
    »Nein«, sagte Francette, »sie hat nichts gesagt.«
    Nach kurzem Nachdenken fügte sie hinzu:
    »Verstehst du, ich hab’ ja noch geschlafen, als sie heute morgen weggegangen ist, aber sie hat mich trotzdem umarmt, hat die Miss gesagt.«
    Yves war versucht, das Kindermädchen zu befragen, aber er wagte es nicht, weil er fürchtete, Verdacht zu erregen – völlig grundlos, lieber Himmel! So stellte er das kleine Mädchen wieder auf den Boden und verließ die Terrasse.
    Weggefahren, aber wohin? Und für wie lange? Das war das Merkwürdigste daran: Er wußte genau, daß Denise’ Abwesenheit nicht von langer Dauer sein konnte, denn Francette war in Hendaye geblieben. War Denise vielleicht nach Biarritz gefahren, um Einkäufe zu machen? Aber mit wem würde sie dort zu Mittag essen? Mit Freunden? Welchen Freunden? Zum ersten Mal irrten seine Gedanken verzweifelt an den Grenzen jener unbekannten Region entlang, die Denise – wie jeden Menschen – umgab; bis jetzt hatte ihn dieses Geheimnis immer kaltgelassen. Vielleicht traf sie sich mit jemandem zu einem lauschigen Mittagessen zu zweit? Er stellte sich nacheinander alle Restaurants von Biarritz vor, die er kannte, von den teuersten bis zu den unscheinbarsten, irgendwo auf dem Land. Blinde Wut erfaßte ihn, und er mußte seine ganze Willenskraft aufbringen, um sich zu beruhigen; dann saß er beschämt, wie betäubt und am ganzen Körper zitternd auf seinem Bett.
    Schließlich stand er auf und ging ziellos in Richtung Strand. Vielleicht hatten Freunde sie zu einem Ausflug abgeholt? Ach, ganz einfach, Freunde – oder vielleicht Verwandte … Sie hatte am Vortag nicht davon gesprochen, aber sie wechselten ja gewöhnlich kaum ein Wort miteinander … Ja, so mußte es sein … Ein Ausflug … Ausflüge dauern mitunter lange, zwei, drei Tage … Und wenn sie nach Spanien gefahren waren oder nach Lourdes, würde sie eine ganze Woche nicht nach Hendaye zurückkehren … zu ihm zurückkehren … Acht Tage, acht Vormittage, acht lange Abende … Das ist nicht wenig, es ist fürchterlich … Vielleicht hat ihr Mann sie ganz plötzlich zu sich nach London bestellt? … Ein Unfall, eine Krankheit, wer weiß? … Sie wird nicht wiederkommen … Das Kindermädchen wird Francette nach England bringen … Panische Angst erfaßte ihn, als hätte man ihm die Nachricht von Denise’ Tod überbracht. Er warf sich zu Boden. Die Sonne war sehr heiß, er grub mit den Händen im Sand, um tief im Boden auf die Feuchtigkeit des Meerwassers zu stoßen; dann ließ ihn die unvermittelt aufsteigende kühle Luft schaudern, und er stand auf.
    Im nächsten Moment wurde er zornig, begann sich selbst zu beschimpfen: ›Sie ist fort … na und? … Ich liebe sie doch nicht? Ich liebe sie nicht? Was wäre denn dabei? … Es ist mir doch egal … Ich bin ein Idiot, ein kompletter Idiot …‹
    Nach diesen verworrenen Gedanken sagte er sich mit bebenden Lippen immer wieder: ›Sie ist fort … das ist es … sie ist fort …‹
    Er ging ins Hotel zurück und legte sich hin; lange blieb er reglos liegen, den Kopf gegen die Wand gedreht, wie als kleiner Junge, wenn er unglücklich war.
    Um fünf Uhr verließ er sein Zimmer, wanderte auf der Terrasse umher, durchmaß mehrmals den Garten; schließlich wurde er es leid und ging ins Kasino, obwohl er wußte, daß sich Denise nur selten dort aufhielt. Junge Leute, junge Mädchen ohne Hüte tanzten auf einer Bühne, die auf Pfählen im Wasser stand. Die ewige Bewegung des Meeres um die Pfeiler und das im Wind flatternde Zeltdach beschworen die Vorstellung eines im Hafen vertäuten Bootes herauf, mit seinem lauten Knarren und dem Salzgeruch. Yves glaubte, daß ihm das alles gefallen könnte, bestellte einen Cocktail, ließ dann aber das halbvolle Glas stehen und ging.
    Im Licht der Abendsonne war das Meer farblos gewor den; kleine rosafarbene Wölkchen sammelten sich am Horizont. Yves lauschte dem Meer; sein Rauschen hatte ihn immer getröstet, und
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