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Das Missverstaendnis

Das Missverstaendnis

Titel: Das Missverstaendnis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Irene Nemirovsky
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Körpers, des liebkosten Gesichts nachzuziehen; im leeren Raum schienen sie seine Formen zu modellieren, tastend, doch auch sicher, wie die Hände eines blinden Künstlers. Und ganz plötzlich fuhr sie zusammen, denn es kam ihr so vor, als könnte sie jenen schwellenden und sensiblen Mund wirklich unter ihren Fingern spüren. Sie mußte die Zähne zusammenbeißen – was sie fühlte, war fast panikartiges Erschrecken, es war gleichzeitig so herrlich und so schrecklich, daß sie, als würde sie einen Vorübergehenden mit seinem Namen ansprechen, mit leiser Stimme sagte:
    »Ist das die Liebe?«
    Später, als Denise im angrenzenden Zimmer in dem Bett lag, in dem ihr Ehemann geschlafen hatte; als sie unter der Decke unwillkürlich nach der vertrauten Form seines ausgestreckten Körpers suchte, erinnerte sie sich an ihn, an ihren liebevollen Gefährten. Sie empfand ein so großes Mitgefühl, daß ihr die Tränen unter den Lidern hervorschossen; sie mochte ihn so gern; doch wenn er da war, langweilte sie sich und dachte am liebsten an andere Dinge, aber sie versuchte mit allen Mitteln, ihm das Leben angenehm zu machen und seine Liebe mit sanften Gesten und innigem Verständnis zu erwidern. Sie hatte ihn hintergangen, das war es letzten Endes. Sie versuchte nicht, Ausreden dafür zu finden. Sie wußte sehr wohl, daß sie ihn betrogen hatte. Die Liebe … nur ein kurzes Abenteuer, in dem sie ihr Herz verlieren würde, während der Mann seine Eitelkeit befriedigte oder sein Verlangen. Die schlichte Poesie einer sommerlichen Affäre interessierte sie nicht. Sie wußte sehr wohl … Wie alle Männer würde er ihr vierundzwanzig Stunden am Tag den Hof machen, und dann würde er nachts an ihre Tür klopfen, und so würde es drei Wochen lang gehen oder etwas länger, bis sie sich trennen würden wie Fremde. Das wollte sie nicht. Sie stellte es sich vor, den Morgen danach, den Ausdruck in Yves’ Augen, diesen lastenden Blick, der ihr schon mehr als einmal aufgefallen war in den Augen von Männern, denen sie gefallen hatte; bis jetzt hatte sie nur darüber gelacht … Aber jetzt … Sie fing an zu weinen, ihr Herz war voll zärtlicher Rührung, voll Mitgefühl mit sich selbst und ihrem Mann, der allein in der Fremde weilte, vielleicht krank geworden war, vor allem aber Mitgefühl mit Yves, mit dem Leiden, das ihm seine enttäuschte Liebe bereiten würde.
    Sie nahm sich vor, ihm am nächsten Morgen, wenn sie ihn sah, kalt und distanziert zu begegnen. Doch er spielte den ganzen Vormittag mit Francette im Sand; kaum hob er einmal den Blick, wenn er mit ihr sprach; er schien noch verlegener zu sein als sie selbst, das entwaffnete sie, und abends, als er ihr einen Spaziergang vor dem Essen vorschlug, nahm sie sein Angebot zwar mit klopfendem Herzen an, sagte sich jedoch, daß sie auf die nun zweifellos zu erwartenden schwärmerischen Liebesworte mit keiner Silbe eingehen werde. Diese Worte blieben aber aus. Die Sonne ging unter. Am Horizont ballten sich dunkle, zerzauste Gewitterwolken zusammen. Es war Flut; die Wellen warfen sich gegen den Deich und rollten weiß und grau zurück, und über ihnen kreisten die Vögel mit ihren klagenden Schreien. Er sprach mit ihr wie immer, redete über Dinge ohne Belang; sie saßen auf der Brüstung; rasch zog die Nacht herein; große Regentropfen fielen, vereinzelt zunächst, dann immer mehr. Er gab ihr seinen Arm, als sie zusammen zum Haus zurückliefen; einen Augenblick lang schien es ihr, als zitterte er ein wenig, doch er beruhigte sich schnell wieder. Der Regen prasselte nun in wütenden Schauern vom Himmel; heftiger Wind hatte sich erhoben, der die Tamarisken bog und Blüten abriß; Yves legte seinen Mantel um Denise’ Schultern; sie liefen, so schnell sie konnten, und wurden trotzdem naß. Er drückte sie an sich; sie spürte an ihrer Taille den harten Griff seiner Hände, doch er schwieg hartnäckig, biß sich auf die Lippen, sah sie kaum an, während sie heimlich ihren ergebenen und furchtsamen Blick auf ihn richtete.

8
    D ie Tage gingen vorüber, und er sagte ihr nichts; er versuchte nicht, sie zu küssen; er erlaubte sich nicht einmal, ihre kühlen, zitternden Hände länger in den seinen zu halten als unbedingt notwendig. Er war überglücklich; mit einer Art abergläubischer Furchtsamkeit schreckte er vor den Worten zurück wie vor einem Fluch. Er genoß diesen Augenblick seines Lebens wie eine besondere Süßigkeit, ein schönes, unerwartetes Geschenk des Schicksals – Erholung,

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