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Das Missverstaendnis

Das Missverstaendnis

Titel: Das Missverstaendnis
Autoren: Irene Nemirovsky
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verließ er seinen Platz am Fenster und ging ins Bad; mit Lackfarbe gestrichen und weißgefliest, strahlte es im Sonnenlicht. Yves zog die Vorhänge zu, und die verschlungenen Muster auf der Gipürespitze wurden augenblicklich als Schatten auf den Boden geworfen und bedeckten ihn mit einem leichten, feingeflochtenen Teppich, der in Bewegung geriet, wenn der Meerwind in die Vorhänge fuhr. Hingerissen verfolgte Yves dieses Spiel von Licht und Schatten; er erinnerte sich daran, daß das auch als Kind sein liebster Zeitvertreib gewesen war. Jedesmal, wenn er in sich, dem nun erwachsenen Mann, solche kindlichen Züge entdeckte, wurde er weich, wie beim Betrachten alter Fotos, aber es mischte sich auch leichte Angst in dieses Gefühl.
    Er hob den Blick und betrachtete sich im Spiegel. Seine Seele glich an diesem Morgen so sehr seiner Kinderseele an jenen strahlenden Ferienmorgen, daß das Spiegelbild ihm eine schmerzliche Überraschung bereitete: Er sah das Gesicht eines Mannes um die dreißig, müde, blaß, mit unreinem Teint und einem kleinen bitteren Zug um den Mund; das Blau der Augen schien verblichen zu sein, und die Lider waren schwer und hatten ihre langen, seidenweichen Wimpern verloren … Es war das Gesicht eines jungen Mannes, gewiß, doch dieses Gesicht war schon verwandelt, bearbeitet von der Hand der Zeit, die in die glatte Frische der jugendlichen Haut sanft, unerbittlich ein Netz feiner Linien gezogen hatte, eine erste schelmische Skizze v om Muster zukünftiger Falten. Yves fuhr sich mit der Hand über die Stirn; an den Schläfen wurde das Haar schon schütter. Gleich darauf betastete er unwillkürlich unter den an dieser Stelle borstig nachgewachsenen Haaren die Narbe, die nach seiner letzten Verwundung durch jenen fast tödlichen Granatsplitter zurückgeblieben war, dort oben in Belgien, nahe einer verkohlten Mauer zwischen toten Bäumen …
    Doch der Kellner, der eintrat, um das Frühstückstablett abzuräumen, riß ihn aus seinen unmerklich düster werdenden Gedanken, wie an gewissen Sommertagen, wenn der allzu blaue Himmel sich bezieht, ohne daß man es bemerkt, und immer dunkler wird, bis sich dunkelgraue Gewitterwolken auftürmen. Yves zog sich eine Badehose an, schlüpfte in Espadrilles, warf ein Handtuch über die Schulter und ging zum Strand hinunter.

2
    A usgestreckt lag er auf dem heißen Sand, der unter den nackten Fersen knirschte. Er schloß die Augen, reckte sich und verharrte dann reglos, das Gesicht dem intensiven Licht des vor Hitze bleich wirkenden Augusthimmels zugewandt, um mit allen Flächen seiner Haut, die die Sonne verbrannte, die einzigartige Empfindung schweigenden, vollkommenen, fast animalischen Glücks auskosten zu können.
    Um ihn herum waren Männer und Frauen, die meisten jung und schön und in beinahe unwahrscheinlichem Maß gebräunt, die sich, kaum bekleidet, gewandt bewegten. Andere lagen in Gruppen zusammen und trockneten ihre nassen Körper an der Sonne, wie er selbst; Jugendliche, bis zur Hüfte nackt, spielten am Rand der Wellen Ball; sie glitten an dem hellen Strand entlang wie in einem chinesischen Schattentheater. Yves war müde, weil er zu lange ge schwommen war, und schloß die Augen; die Helligkeit des Mittags durchdrang seine geschlossenen Lider und tauchte ihn in feurige Finsternis, in der große Sonnen kreisten, gleichzeitig dunkel und glühend hell. Die Luft war angefüllt mit dem schallenden Geräusch der Wellen, die sich auf dem Sand brachen, als würden mächtige Schwingen das Ufer peitschen. Yves wurde vom hohen Lachen eines Kindes aus seiner Betäubung gerissen; ganz nah liefen eilige kleine Füße an ihm vorbei, und gleich darauf traf ihn eine Handvoll Sand. Er richtete sich auf und hörte eine Frauenstimme entsetzt rufen:
    »Francette, ich bitte dich, Francette, wirst du wohl artig sein und sofort hierherkommen!«
    Yves war jetzt vollständig wach. Er setzte sich auf, sah sich um und erblickte die Silhouette einer hübschen Frau im Badeanzug, die ein kleines Mädchen von zwei oder drei Jahren an der Hand hielt, stämmig und ziemlich drollig, wie es schien, mit einem dichten Haarschopf, der sich an der Sonne zu einem hellen Weizenblond verfärbt hatte, während die Haut dunkelbraun geworden war.
    Yves sah, wie die beiden in Richtung Wasser gingen. Lange folgte er ihnen mit dem Blick und empfand dabei ein unbewußtes Vergnügen, das ebensosehr von dem kleinen Mädchen wie von der hübschen Mutter verursacht wurde. Das Gesicht der Frau hatte er
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