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Das Missverstaendnis

Das Missverstaendnis

Titel: Das Missverstaendnis
Autoren: Irene Nemirovsky
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Angestellten, das er haßte, wie kleine Jungen, die sehr faul und sehr sensibel sind, das Internat hassen. Er wohnte immer noch in seiner alten Wohnung voller Andenken, Blumen und hübscher, liebevoll arrangierter Gegenstände. Jeden Morgen um acht Uhr, wenn es hieß, aufzustehen, sich hastig anzuziehen, die warmen, dämmrigen Zimmer zu verlassen und in die grausame Kälte der Straße hinauszutreten, dann in das kahle, häßliche Büro, wo man den ganzen Tag damit verbrachte, Aufträge zu erteilen und Aufträge entgegenzunehmen, zu schreiben, zu reden, empfand Yves erneut Verzweiflung, und erneut spürte er den haßerfüllten und vergeblichen Impuls der Rebellion in sich, den schrecklichen, schwarzen, überwältigenden Überdruß. Er war weder ehrgeizig noch betriebsam; sorgfältig tat er, was er zu tun hatte, fast wie man für den Unterricht am nächsten Tag seine Hausaufgaben erledigt.
    Es kam ihm nicht einmal der Gedanke, daß er Geschäfte machen könnte, kämpfen könnte, versuchen könnte, sich zu bereichern. Als Sohn und Enkel reicher Leute, die nie gearbeitet hatten, litt er unter dem Mangel an Leichtigkeit, an Sorglosigkeit, wie man unter Hunger und Kälte leidet. Nach und nach hatte er sich an sein Leben gewöhnt, weil man sich wohl oder übel an alles gewöhnt, doch seine Resignation war eine schwere und traurige Bürde. Die immer gleichen Tage gingen vorüber und hinterließen abends nur ein Gefühl äußerster Mattigkeit, Kopfweh, ein bitteres und krankhaftes Bedürfnis nach Einsamkeit. Hastig aß er im Restaurant oder zu Hause am Kamin, mit seinem Hund Pierrot, einer lockigen Promenadenmischung, die einem Lämmchen ähnelte, zu seinen Füßen, und ging früh schlafen, denn die Nachtklubs und Tanzcafés waren teuer, und zudem mußte er am nächsten Tag rechtzeitig aufstehen. Er hatte Liebschaften gehabt, die höchstens zwei, drei Monate gedauert hatten; so schnell sie begonnen hatten, so schnell waren sie wieder vorüber. Die Frauen hatten ihn sehr bald gelangweilt, und er wechselte sie oft, weil er der Meinung war, daß nur die erste Umarmung etwas wert sei. Auf das wunderbarste beherrschte er jene zutiefst moderne Kunst, die darin bestand, Frauen »fallenzulassen«: Er wußte sich ihrer ganz sanft zu entledigen. Bisweilen, wenn er wieder einmal eine Frau verließ, mit dem Gefühl von Erleichterung wie nach Erledigung einer lästigen Pflicht, erinnerte er sich an seinen Vater, der den Sinn des Lebens in diesen Augen, diesen Brüsten, diesen kurzen Aufwallungen zu finden geglaubt hatte. Frauen … Für Yves waren sie nicht mehr als hübsche und praktische Objekte. Es hatte so viele von ihnen gegeben seit dem Krieg, und es war so einfach gewesen … Und dann, wirklich – nein, nein, er konnte sich noch so sehr in diese zärtlichen und heuchlerischen Blicke versenken, er fand in ihnen nicht jenen intimen Schauder der Seele, jenen Schimmer des Unbekannten, den sein Vater zu erblicken gemeint hatte, den vielleicht auch er auf dunkle Weise suchte. Und er dachte, daß für einen Mann, der seinen Blick in die Augen von Sterbenden gesenkt hatte, der verwundet zu Boden gestürzt war, der krampfhaft die Augen aufgerissen hatte in dem Versuch, ein wenig Himmel zu erspähen, bevor der Tod ihn ereilte, daß für einen solchen Mann eine Frau weder rätselhaft noch geheimnisvoll sein konnte, noch irgendeinen anderen Reiz bereithielt, außer dem, gefällig, hübsch und frisch zu sein. Die Liebe … das mußte ein Gefühl von Frieden, von Stille, von unendlicher Heiterkeit sein … Die Liebe, das mußte bedeuten, Ruhe zu finden … wenn es so etwas gab …

4
    J eden Sommer bekam Yves einige Wochen Urlaub, und da er den Winter über sehr sparsam lebte, konnte er es sich erlauben, seine Ferien zu verbringen, wie und wo es ihm gefiel. In diesem Jahr war er nach Hendaye gekommen, weil er den Wunsch gehabt hatte, den schönen Strand wiederzusehen, an dem er als Kind gewesen war, aber auch, weil er glaubte, in Hendaye gebe es weniger Versuchungen aller Art als anderswo; zudem lag Hendaye in der Nähe von Biarritz und San Sebastian, zwei der liebenswertes ten Zentren im kosmopolitischen Rummel. Außerdem liebte er das freie und wilde Meer und das strahlende Licht des Baskenlands. Und schließlich schenkte ihm das müßige und bequeme Leben in einem der großen Hotels dasselbe tiefe Wohlbefinden, das einen überkommt, wenn man sich nach einer langen Eisenbahnfahrt in das warme Wasser einer Badewanne gleiten läßt.
    An jenem
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