Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Missverstaendnis

Das Missverstaendnis

Titel: Das Missverstaendnis
Autoren: Irene Nemirovsky
Vom Netzwerk:
Haus seiner Eltern. So lebte er, ständig den Ort wechselnd, etwas mehr als zwei Jahre und kehrte Anfang 1911 nach Paris zurück. Dort ließ er sich nieder; in Versailles leistete er seinen Militärdienst ab, und zwei, drei Jahre vergingen rasch und angenehm. Er erinnerte sich jetzt daran wie an einen schönen Frühling, kurz, sonnig und mit Liebesabenteuern angefüllt, die ihm leer und flüchtig, aber doch auch bezaubernd vorkamen. Und dann, mitten in diesem Leben, brach unvermittelt der Krieg aus wie ein Donnerschlag aus heiterem Himmel.
    1914: Der Abmarsch, die erste Begeisterung, das Grauen des Todes. 1915: Kälte, Hunger, der Schlamm der Schützengräben, der Tod als vertrauter Begleiter, der einem nicht von der Seite wich und neben einem im Unterstand schlief. 1916: Wieder Kälte, Dreck, Tod. 1917: Müdigkeit, Resignation, Tod … Ein unendlich langer Alptraum … Einige hatten ihn überlebt – die guten Bürger, die Ruhigen –, sie waren kaum verändert zurückgekehrt und fanden sich wieder in ihre alten Gewohnheiten ein, in ihren alten Seelenzustand, als würden sie in abgetragene Pantoffeln schlüpfen. Andere – die Leidenschaftlichen – trugen ihre Revolte, ihr Fieber, ihr qualvolles Begehren unter die Menschen. Wieder andere – zum Beispiel Yves – waren nach ihrer Rückkehr einfach nur müde. Sie hatten zunächst geglaubt, daß die Müdigkeit ein vorübergehender Zustand wäre und die Erinnerung an jene dunklen Stunden sich in dem Maß abschwächte, in dem das Leben wieder ruhig, normal und friedlich verliefe, daß sie eines Tages aufwachen würden und kräftig, fröhlich und jung wären wie zuvor. Doch die Zeit verging, und »es« blieb und fraß an ihnen wie ein langsam wirkendes Gift. »Es« war ein sonderbarer Blick in die Ferne, ein Blick, der alle menschlichen Schrecken gesehen hatte, alles Elend, alle Ängste, »es« war die Verachtung des Lebens und das heftigste Verlangen nach den gröbsten, den fleischlichen Vergnügungen, »es« war Trägheit – denn dort hatte während so vieler Jahre die einzige Arbeit daraus bestanden, mit verschränkten Armen auf den Tod zu warten – und eine bittere Feindseligkeit gegenüber allen anderen Menschen, weil sie nicht gelitten hatten, weil sie das alles nicht gesehen hatten … Viele waren mit solchen Gedanken zurückgekehrt; viele hatten weitergelebt wie der auferweckte Lazarus, der mit ausgestreckten Armen zu den Lebenden geht, das Leichentuch noch um die Beine gewickelt, die Pupillen vergrößert von einer schrecklichen Trostlosigkeit.
    Erst 1919 kehrte Yves, der dreimal verwundet worden war, mit dem Kriegskreuz an der Brust endgültig nach Paris zurück; er brachte seine Angelegenheiten in Ordnung und rechnete nach, wieviel ihm von seinem Vermögen geblieben war. Es war nämlich auf Anraten seines Notars in zwei Teile geteilt worden. Das Erbe seiner Mutter hatte er in die Fabrik seines Onkels mütterlicherseits gesteckt, eines schwerreichen Industriellen. Von dieser Seite her war ihm nichts geblieben: Der Onkel war 1915 völlig ruiniert gestorben. Es blieb das Erbe seines Vaters, das vor dem Krieg in ausländische Aktien umgewandelt worden war, hauptsächlich deutscher und russischer Unternehmen. Alles in allem konnte Yves nun auf eine Rente rechnen, die gerade ausreichte, um seine Zigaretten und seine Taxifahrten zu finanzieren. Er mußte seinen Lebensunterhalt selbst verdienen. Es folgten düstere Stunden, an die er sich später nicht erinnern konnte, ohne daß ihm ein Schauder über den Rücken lief. Dieser junge Mann, der vier Jahre lang ein Held gewesen war, zeigte sich mutlos angesichts der Mühen des Alltags, der ihm aufgezwungenen Arbeit, der armseligen Tyrannei der bloßen Existenz. Gewiß, er hätte auch eine vorteilhafte Ehe eingehen können, hätte eine Tochter aus neureichem Hause oder eine dollarschwere Amerikanerin heiraten können, doch man hatte ihm all diese Skrupel und all diese taktvollen Zweifel eingepflanzt, die ein Luxus sind, doch wesentlich belastender als die meisten anderen, man hatte ihn sogar dazu erzogen, Prinzipien zu haben, die aus dem Gewissen so etwas wie einen gotischen Stuhl machen, sehr hart, mit hoher Lehne, sehr schön und sehr unbequem. Schließlich hatte er eine Stelle in der Verwaltung einer großen internationalen Presseagentur gefunden, zweitausendfünfhundert Francs im Monat, und unverhofft hatte sich seine Lage verbessert.
    Seit 1920 – es war inzwischen August 1924 – führte Yves nun das Leben eines
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher