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Das Missverstaendnis

Das Missverstaendnis

Titel: Das Missverstaendnis
Autoren: Irene Nemirovsky
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aufstöhnen. Unterdessen machte sich ein klarer Gedanke in ihr bemerkbar. Sie wollte wissen, wo er war. Sie hielt ein Taxi an und ließ sich zu seinem Büro fahren. Der Direktor empfing sie unverzüglich, nachdem sie ihm ihre Karte hatte überreichen lassen. Sie sah, daß er sie erstaunt musterte, doch die Ungeheuerlichkeit der Tatsache, daß sie sich mit dem Namen ihres Mannes vorgestellt hatte, kam ihr kaum zu Bewußtsein. Ohne daß sie in ihn dringen mußte, gab der Direktor preis, was er wußte. Harteloup war nach Finnland gefahren; man hatte ihn angerufen: dringende Familienangelegenheiten offenbar. Er hatte eine Adresse hinterlassen. Mit dünner, gebrochener Stimme fragte sie:
    »Glauben Sie, daß er lange fort sein wird, Monsieur?«
    »Er hat mir gesagt, für immer«, erwiderte der Direktor zögernd.
    »Ach!« stieß sie hervor und blieb dann regungslos sitzen. Nur ihre Wangen waren bleich geworden, und ihre Mundwinkel waren nach innen gesunken, was sie unvermittelt alt aussehen ließ.
    Peinlich berührt sagte der Direktor:
    »Wollen Sie seine Adresse?«
    »O ja, bitte, ja, Monsieur«, sagte sie wie ein Kind, das vermeint, alles Gewünschte zu bekommen, wenn es nur brav und geduldig ist.
    Sie erhielt wirklich einen Umschlag, auf dem geschrieben stand:
    Savitaipol
Gemeinde Koirami
via Haparanda
    (Finnland)
    Und erst als sie diese eigenartigen fremden Worte las, wurde ihr unmißverständlich klar, wie weit fort er war.
    Der Direktor betrachtete sie mit einer Mischung aus Mitleid und Neugier; halb erwartete er, sie ohnmächtig niedersinken zu sehen. Doch sie erholte sich rasch, wie nach einem Peitschenhieb.
    »Ich danke Ihnen.«
    Und indem sie ihn mit einer Handbewegung davon abhielt, sich ihr zum Abschied zu nähern, verließ sie sein Zimmer.
    Dann war sie auf der Straße und hielt das kleine Stück Papier in Händen, auf dem Yves’ Adresse stand. Sie schleuderte es von sich. Was sollte es ihr nützen? Hatte sie jemals gewagt, etwas zu tun, was er mißbilligte? Und hatte er nicht klar gezeigt, was er wollte, indem er ohne ein Wort des Abschieds fortgegangen war? Wieder dachte sie: ›Ich habe es immer gewußt … Ich habe immer gewußt, daß er eines Tages gehen würde ohne ein Wort …‹
    Instinktiv ging sie in Richtung ihres Hauses, doch dann blieb sie an ihrer Straßenecke stehen: Vor dem Haustor hatte sie das Auto ihres Mannes entdeckt. Verwundert warf sie einen Blick auf die Uhr: Es war schon fast Mittag. Bald mußte sie sich zu Tisch begeben, Jacques gegenübersitzen, ihm ihr elendes, verweintes Gesicht zeigen … Dazu fehlte ihr die Kraft! Er bräuchte nur eine kleine Frage zu stellen, schon würde sie in Tränen ausbrechen und alles gestehen.
    Sie ging zum nächsten Postbüro, ließ ihre Nummer wählen und dann Marie rufen.
    »Marie, ich komme heute nicht zum Essen … Ich wurde aufgehalten … Ich bin bei einer kranken Freundin …«
    Marie sollte sehen, wie sie es ihrem Mann beibrachte. Als sie die Post verließ, tat ihr die schreckliche Hitze gut: Sie verhinderte das Denken, die Erinnerung … Sie litt fast nicht mehr; der Asphalt brannte heiß unter ihren dünnen Sohlen, und etwas anderes fühlte sie nicht. Sie ging weiter, immer weiter, ohne zu ahnen, daß sie womöglich die tragische Wanderung ihres Geliebten wiederaufnahm, eines Nachts …
    Unvermutet befand sie sich am Ufer der Seine. Sie ging über eine Brücke. Vom Wasser stieg etwas kühlere Luft auf. Auf einmal löste sich die physische Erstarrung, in der sie sich befunden hatte, und ihre Resignation verwandelte sich in wilde Verzweiflung, so daß sie stehenbleiben mußte und mit den Händen ihre Kehle umfaßte, als würde sie ersticken.
    »Yves, Yves …«
    Sie verurteilte ihn nicht. Stets hatte sie ihm mit diesem Gefühl gegenübergestanden, in dem sich Unverständnis mit fast abergläubischer Ehrfurcht mischte, ein Gefühl, das einen großen Teil der Liebe einer Frau zu einem Mann ausmacht. Sie empfand weder Haß noch Rachsucht, noch Verachtung. Nur ungeheure Fassungslosigkeit. In seiner Flucht erriet sie keinen anderen Grund als diesen Willen des Mannes, dem man sich unterwirft, ohne ihn zu verstehen, wie dem Willen Gottes. Sie ahnte nicht im geringsten, wie die Wahrheit aussah. Doch hätte sie die Wahrheit gekannt, hätte sie erraten, daß Yves in jener Nacht neben ihr in der Dunkelheit gestanden hatte, hätte sie wahrscheinlich auch nicht mehr verstanden … Konnte man das Betrug nennen, dieses freudlose Spiel, mit dem sie sich ein
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